Leseprobe: Gitarristen weinen nicht

Er drückte sich gegen die Wand. In der Nebenkabine rauschte eine Spülung. Die Holztür schwang auf und stieß mehrfach gegen die Zarge, der Wasserhahn wurde aufgedreht.

Dann folgte Stille, nur unterbrochen von dem Tropfen des undichten Hahns in das Becken und dem Pfeifen des Windes durch die gekippten Fenster. Sam öffnete und schloss seine kalten Hände. Seine Haut spannte schmerzhaft über den hellen Knöcheln.

Wann ist die Pause endlich vorbei?

Sein Atem bildete Wölkchen. Die kleinen Wasserpartikel zogen nach oben, stoben auseinander, bis Sam sie nicht mehr sehen konnte.

Als es endlich klingelte, wartete er noch einen Moment. Um wieder in die Schule zu kommen, mussten die Schüler an dem ausgelagerten Toilettengebäude vorbei. Stimmen, Schreie, Schritte. Es dauerte, bis es ruhiger wurde und er die Kabine aufschloss. Sein Gehirn nannte sie Bunker. Sam wehrte sich noch gegen den Ausdruck, obwohl es keine bessere Beschreibung für sie gab. Vielleicht Schutzraum?

Julia liebt Mark.

Herr Aurich ist doof.

Und die üblichen Peniszeichnungen waren auf der ganzen Wand verteilt. Teilweise schon verblasst, andere frisch. In den Fliesenfugen über dem Waschbecken waren noch die Löcher für die ehemaligen Halterungen der Spiegel. Nachdem sie immer wieder vollgeschmiert und eingeschlagen worden waren, hatte man sie abgehängt. Auch die Ablagen und die Seifenspender.

Sam verließ die Toiletten. Der Hof hatte sich geleert, Schnee fiel in die Spuren und würde sie bis zur nächsten Pause füllen. Sam kehrte zur Klasse zurück, die Tür zum Raum stand offen. Er wurde langsamer, die Schritte kürzer. Das Lehrerzimmer lag auf der anderen Seite des Ganges. Ein Grund, warum er sich gefreut hatte, dass sie nicht wie die zweite 8. Klasse den Raum gewechselt hatten.

Es waren nur noch ein paar Meter bis zur Tür.

Wo bleibt sie? Sie ist doch sonst so pünktlich. Sam hatte es schon lange perfektioniert, für kurze Wege das Maximum an Zeit zu brauchen.

Dann tauchte die Lehrerin endlich am Ende des Ganges auf. Sam wartete noch, bis sie die erste Tür auf dem Flur passiert hatte, dann betrat er die Klasse.

Er saß direkt neben der Tür. Sein Herz schlug hektisch, sein Blick sprang zu allen Seiten, um seine Umgebung zu beobachten. Sekunden reichten, um es beginnen zu lassen. Dann betrat die Lehrerin den Raum und er konnte durchatmen.

»Guten Morgen«, sagte sie und stellte ihre Tasche auf den Tisch. »Ich habe eure Arbeiten korrigiert.«

Ein Raunen ging durch die Klasse. Begeisterung klang anders. Die Arbeit war schwer gewesen und die Zeit knapp bemessen.

Die Lehrerin drehte sich zur Tafel und schrieb den Notenspiegel an. Keine 1, keine 2. Noch ein größeres Raunen unter den Schülern.

»Nicht mal er?«

Er war Sam.

Zwei 3er, der Rest verteilte sie auf 4 und 5. Schon mal keine 6.

»Ich bin wirklich sehr unglücklich mit dem Ergebnis.« Sie nahm einen Stapel Zettel aus der Tasche und machte die Runde zwischen den Tischen. Bei Sam blieb sie kurz stehen. »Was war los?«, fragte sie, legte die Arbeit vor ihm auf die Tischplatte und wartete nicht, bis er antwortete.

Eine 4. Sam war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Es störte ihn nicht. Wenn er den Notenspiegel ansah, war er noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.

»Hey, wer hat die zweite 3?«, fragte ein Junge von hinten.

»Na, Sam, wer sonst«, kam zur Antwort.

Er schüttelte den Kopf. Ob es gesehen wurde, wusste er nicht.

»Nein, die habe ich«, stellte ein Mädchen, das am Fenster saß, richtig.

»Reden könnt ihr in der Pause«, unterbrach die Lehrerin die aufkommende Geräuschkulisse.

Sam schlug sein Heft auf. Es fühlte sich gut an. Irgendwie. Auf eine Art, die ihm auch Angst machte. Er sah kurz zum Fenster, hinter dem dicke Flocken vom Himmel schwebten. Leicht. Leise. Eiskalt.

Und die Klasse spiegelte sich im Glas. Er wusste, was sie taten, wenn er der Beste war. Wie würden sie jetzt reagieren? Sam griff zum Etui. Seine Hand zitterte. Er ballte sie zur Faust, damit es aufhörte.

Keine Angriffsfläche bieten. So weit es möglich war.