Herz auf Polaroid

Steve ist sechzehn, und der Zauber der Weihnacht ist für ihn längst erloschen. Das jährliche Fotoshooting mit seinen Eltern für die Grußkarten ist nur ein lästiger Pflichttermin in dieser Zeit. Doch in diesem Jahr ist der Besitzer des Fotostudios krank. Er wird von David vertreten – einem Kunststudenten, der hinter der Kamera in eine eigene Welt einzutauchen scheint.

Steve ist fasziniert von der Art, wie der junge Fotograf an seine Art herangeht. Als David ihn auffordert, vor der Kamera ganz er selbst zu sein, berühren sich ihre Welten für einen kurzen Augenblick. Danach geht David Steve nicht mehr aus dem Kopf, und er hat Glück: Nur wenige Tage später treffen sie sich erneut.

Eine liebevolle Weihnachtsgeschichte über zwei Herzen, die sich nach einem Hauch winterlichen Zaubers sehnen.

Amazon / Thalia

 

Leseprobe:

1

 

Wie die Eltern das wohl ihren Kindern erklären, dachte Steve, als er den dritten Santa Claus innerhalb weniger Minuten vor einem Geschäft im Stadtkern entdeckte.

Er lehnte seinen Kopf gegen die Nackenstütze. Die bunten Lichter der Weihnachtsdekorationen in den Straßen tauchten die helle Decke des Wagens in ein Meer aus Farben. In diesem Jahr hatten die Händler wirklich alles aus ihren Lagern herausgeholt, was leuchten, blinken oder anderweitige Effekte erzeugen konnte, um die Kunden auf ihre Läden aufmerksam zu machen.

Steve empfand diese Massen als zu viel. Mit sechzehn Jahren hatte Weihnachten seinen Zauber größtenteils verloren. Der Glaube an Santa Claus war längst erloschen, und der letzte Funken Magie, den der Dezember noch innehatte, wurde jedes Jahr von Steves Lehrern zerstört – mit etlichen Tests, die unbedingt vor Jahresende geschrieben werden mussten.

Sein Vater bog in die Tiefgarage der Shopping Mall von Port Cliff ab. Statt des bunten Schimmers erhellten nun grelle, weiße Leuchtstoffröhren die Umgebung. Steve lehnte sich vor und beobachtete die Automassen, die dicht an dicht in den Parkboxen standen.

Ein älterer Mann schaute sich suchend um, eine Frau lud Taschen in den Kofferraum, während sie mit der freien Hand den Kinderwagen neben sich schaukelte.

»Das wird jedes Jahr voller. Nächstes Mal gehen wir früher«, sagte Steves Mutter.

»Das hast du in den letzten Jahren auch schon gesagt, und am Ende wird es immer Dezember.« Sein Vater lachte, dann bremste er ab, um einen Wagen ausparken zu lassen. »Die Lücke ist eng, steigt ihr schon mal aus.«

Steve öffnete die Tür. Weihnachtsmusik aus furchtbar blechern klingenden Lautsprechern schallte ihm entgegen. Er wich ein paar Schritte zur Seite, damit sein Vater einparken konnte.

Ein kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter kam auf ihn zu. Sie trug eine Spielzeugkrone im Haar und blieb vor Steve stehen.

»Warum hast du einen Anzug an?«, fragte sie.

Die Mutter warf Steve einen entschuldigenden Blick zu. »Sprich nicht einfach Leute an, das ist unhöflich«, sagte sie zu ihrer Tochter und versuchte, sie mit einem sanften Zug mit sich zu ziehen.

Steve ging in die Hocke. »Wir lassen Fotos für Weihnachtskarten drucken«, antwortete er auf die Frage des Mädchens und zwinkerte ihr zu. »Du weißt ja, wie Erwachsene sind – die wollen immer, dass man besonders anständig aussieht.«

Die Kleine grinste und nickte wissend. »Du siehst schön aus.«

»Danke für das Kompliment, Prinzessin.«

Das Mädchen strahlte ihn an, löste sich von der Hand ihrer Mutter und machte einen Knicks, wie sie es wahrscheinlich von den Prinzessesinnen aus den Disney-Filmen kannte.

»Ich wusste gar nicht, dass du gut mit Kindern kannst«, sagte Steves Vater, der den Wagen in die Parkbox eingefädelt hatte.

»Kommt auf das Kind an«, erwiderte Steve. »Die Kleine war einfach nur neugierig gewesen.«

»Wo bleibt ihr denn? Wir sind knapp dran!«, rief seine Mutter, die schon auf dem Weg zum Fahrstuhl war.

Alle voll im Stress, dachte Steve, als er in die Gesichter der Mitfahrenden im Aufzug sah. Ihre Blicke gingen angestrengt ins Leere, aber hinter ihren Stirnen konnte Steve es deutlich arbeiten sehen.

Die Kabine stoppte, die Türen glitten zur Seite und öffneten den Weg in ein Wintermärchenhorrorland. Eine Welt aus sich überlagernder Musik der verschiedenen Läden sowie Deko, die von dezent und liebevoll bis furchtbar kitschig reichte. Die Menschen hatten hier entweder alle Zeit der Welt oder drängten sich abgehetzt durch die Menge.

Auf ihrem Weg zum Fotostudio kamen sie an einem Spielzeugladen vorbei. Ein älteres Paar stand mit zwei kleinen Kindern davor, die auf die ausgestellten Puppen, Actionfiguren und Plüschtiere zeigten.

Das würde Sarah sicher gefallen, dachte Steve und speicherte es gedanklich als Weihnachtsgeschenk für seine beste Freundin ab. Seit er sie kannte, spielte sie jedes neue Pokémon-Spiel direkt am Erscheinungstag. Steve hatte selbst nie Zugang zum Gaming gefunden, aber er hörte Sarah gerne zu, wenn sie von neuen Spielen schwärmte, und sie war froh, ihre Begeisterung jemandem mitteilen zu können.

Der Fotograf hatte sein Geschäft im letzten Eck der Mall. Hier ging es deutlich ruhiger zu. Neben dem Fotogeschäft gab es hier ein Reisebüro, das sich erfolgreich gegen den Onlinemarkt behauptete, einen Immobilienmakler, bei dem Steve noch nie einen Kunden gesehen hatte und einen Übersetzungsservice, der gefühlt immer geschlossen war.

Die Tür des Studios stand offen.

»Guten Tag«, rief Steves Vater in den leeren Vorraum.

»Bin sofort da!«, kam es von einer jungen, männlichen Stimme aus dem abgedunkelten hinteren Abschnitt des Ladens.

Steves Eltern sahen sich verwundert an. Der Inhaber war ein älterer Mann, ein paar Jahre vor dem Ruhestand. Bisher hatte er immer alleine gearbeitet.

Das hing da letztes Jahr aber noch nicht. Steve betrachtete das großformatige Foto auf Leinwand, das neben dem Tresen hing. Er war sich sicher, dass es von der Bushaltestelle auf den namensgebenden Klippen der Stadt aus aufgenommen worden war. Die ersten Sonnenstrahlen fielen zum Zeitpunkt der Aufnahme ins Tal und berührten den Wasserturm des verlassenen Industriegebietes. Es entstand der Eindruck, er sei ein Wächter, der über die Gebäude wachte, die der Mensch dem Verfall überlassen hatte.

Steve betrachtete es genauer und staunte über die Details, die man bei näherem Hinsehen entdeckte. Das Offensichtlichste fiel ihm jedoch erst auf, als er etwas zurücktrat. Das neue Port Cliff, das nach der wirtschaftlichen Krise auf der Nordseite des Flusses entstanden war, befand sich im Schatten. Der Fokus lag auf dem ursprünglichen Teil der Stadt – dem Industriegebiet und den »alten Vierteln« auf der Südseite des Flusses, die sich in den letzten Jahren zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt hatten.

Das Bild entsprach definitiv nicht dem, wie die Verantwortlichen die Stadt gerne nach außen hin präsentieren wollten.

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten.«

Ein junger Mann kam aus dem hinteren Teil des Ladens. Steve schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Er trug eine Sweatshirt-Jacke mit dem Schriftzug der Universität von Port Cliff.

»Familie Carter, wir kommen für die jährlichen Weihnachtsfotos«, antwortete Steves Vater.

»Ah! Schön, dass Sie da sind. Mein Name ist David Hanson. Der Chef ist seit Anfang der Woche erkrankt und er hat mich gebeten, ihn zu vertreten. Kommen Sie bitte mit nach …«

»Haben Sie dafür denn die entsprechende Erfahrung?«, fragte Steves Mutter und betrachtete David skeptisch von den blauen Haarspitzen bis zu den etwas abgenutzten Turnschuhen.

Wie peinlich! Steve hielt sich kurz die Hand vor das Gesicht und sah anschließend David entschuldigend an, wie es die Mutter des kleinen Mädchens bei ihm getan hatte.

»Sie können sich gerne zuvor ein Bild von meinen Arbeiten machen«, bot David freundlich an.

Wie kann er da so ruhig bleiben? Nichts an dem jungen Fotografen deutete darauf hin, dass er sich von Steves Mutter angegriffen fühlte. Entweder kannte er es schon, dass ihm, offenbar aufgrund seiner Optik und seines Alters, die Kompetenzen abgesprochen wurden, oder er hatte ein Selbstbewusstsein, von dem Steve gerne etwas abhaben wollte.

»Wenn Mr. Greene in Ihre Fähigkeiten Vertrauen hat, dann haben wir es auch«, griff Steves Vater ein. »Ich hoffe, er ist nicht ernsthaft erkrankt.«

»Nein, er wird ab Montag wieder hier sein.«

David hielt Steves Eltern den schwarzen Vorhang beiseite und ließ sie in den Fotobereich eintreten.

»Ich habe mir die Fotos vom letzten Jahr angesehen. Möchten Sie wieder etwas in der Art oder …«

»Natürlich, wie jedes Jahr«, fiel Steves Mutter David sofort ins Wort.

»Was würden Sie denn vorschlagen?«

Steve verkniff sich ein Grinsen, als seine Mutter die Lippen zusammenpresste und sein Vater sich offen an David wandte. Er empfand eine gewisse Genugtuung dem jungen Fotografen gegenüber.

»Ich zeige ihnen gerne ein paar Beispiele.« David ging zu dem schmalen Tisch, auf dem ein Laptop stand. »Wir hätten folgende Möglichkeiten.« Er rief einige Vorlagen auf und drehte den Laptop in den Raum hinein.

Aufmerksam betrachtete Steves Vater die Musterkarten. »Was hältst du davon?« Er zeigte auf ein Beispiel mit einem großen Foto in der Mitte und jeweils kleinen Porträts am Rand.

Seine Frau stand mit angespannter Haltung einen Schritt hinter ihm und schüttelte den Kopf. »Das ist zu persönlich für die Firma. Wir sollten es so machen wie immer«, antwortete sie bestimmend.

Steves Vater lächelte beschwichtigend. »Ja, und wie es meine Eltern schon getan haben und mein Großvater. Seien wir mal ehrlich, die Karten könnten wir in Schwarz-Weiß drucken lassen und man würde kaum einen Unterschied erkennen.« Er sah kurz zu David und nickte ihm zu. »Geben wir Mr. Hanson die Chance, ein bisschen frischen Wind in die Sache bringen.«

»Wäre es nur für die Familie, könnte ich mich ja damit anfreunden, aber für unsere Mitarbeiter?«, fragte Steves Mutter skeptisch.

»Wenn Ihnen das Sorgen macht, erstelle ich Ihnen gerne zwei verschiedene Karten.«

»Ein bisschen Trennung zwischen privat und geschäftlich ist sicher nicht verkehrt.« Nachdenklich legte Steves Vater den Finger ans Kinn und nickte. »Ja, wir machen das so.«

Die Nasenflügel von Mrs. Carter blähten sich auf, als sie tief einatmete. »Also gut, dann zwei Karten«, stimmte sie ihrem Mann widerwillig zu.

»Dann bereite ich alles vor, wenn Sie möchten, können Sie sich dort hinten noch einmal frisch machen.« David deutete in Richtung eines mannshohen Spiegels.

»Kämm dich«, wies Steves Mutter ihren Sohn an. »Deine Haare liegen schon wieder, als wärst du gerade erst aufgestanden.« Sie holte eine aufklappbare Bürste aus ihrer Handtasche heraus und drückte sie ihm in die Hand.

Er unterdrückte ein Seufzen und kam ihrem Wunsch ohne weiteren Kommentar nach. Seine Haare führten schon immer ein Eigenleben. Ein Hauch Feuchtigkeit reichte aus, um sie die Schwerkraft vergessen zu lassen. Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, wäre sie bis auf wenige Millimeter herunterzuschneiden. Etwas, das Steve gar nicht wollte. Durch sein helles Rotblond sah es dann von weitem aus, als hätte er keine Haare und sich die Kopfhaut verbrannt.

David platzierte einen Stuhl vor dem weißen Hintergrund. »Mr. Carter, stellen Sie sich bitte in die Mitte. Mrs. Carter, Sie gehen bitte links neben ihren Mann.«

Steves Eltern kamen der Aufforderung nach.

»Und du stellst dich bitte rechts daneben.«

Die Aufstellung war neu. Sonst hatte Steve in der Mitte auf einem Stuhl gesessen und seine Eltern hatten hinter ihm gestanden. Diese Position hatte ihm immer das Gefühl gegeben, als würde er unten aus dem Bild fallen.

David schob seine Brille mit dem dunklen Kunststoffgestell auf den Kopf und schaute durch den Sucher der Kamera. »Jetzt bitte alle noch ein Stück zusammenrücken und lächeln«, sagte er. Der Auslöser klickte. »Gut so. Jetzt bitte mal nicht direkt in die Kamera schauen, sondern den Blick etwas schweifen zu lassen. Dabei aber trotzdem noch in meine Richtung sehen.«

Steve bemühte sich, alle Aufforderungen von David umzusetzen. Bisher waren diese Fotos nur ein lästiger Termin in der Weihnachtszeit gewesen. Rein in den Laden, aufstellen, lächeln, ein paar Bilder machen und dann das beste heraussuchen.

David ging das Fotoshooting anders an. Er wechselte die Positionen, stellte immer wieder etwas an der Kamera ein, probierte aus und ließ auch mal die Familie die Plätze ändern. Mal saß Steves Mutter in der Mitte, mal Steve selbst und auf einer Aufnahme standen sie gemeinsam vor dem Hintergrund.

Statt der üblichen Viertelstunde verbrachten sie diesmal mehr als dreißig Minuten mit den Fotos, bis David entschied, dass sie ausreichend Auswahl zum Aussuchen hatten. Er steckte die Speicherkarte der Kamera in den Laptop und ließ die Familie Carter kurz allein für die Wahl des richtigen Bildes.

Steves Eltern scrollten durch die Aufnahmen und er wünschte sich, sie würden etwas länger bei den einzelnen Bildern bleiben. Diese Fotos wirkten auf eine ihm nicht erklärbare Art lebendig. Mit den doch recht steifen Familienporträts aus den vergangenen Jahren hatte das gar nichts mehr zu tun.

Als würden wir gleich anfangen, uns zu bewegen. Steve schaute über die Schulter zu David, der den Raum für die Einzelbilder vorbereitete. Er hatte eines der Hintergrundrollos heruntergezogen, auf dem ein pastellfarbenes Muster aus sich überlagernden geometrischen Formen gedruckt war.

Er geht da mit echt viel Leidenschaft dran.

»Wir haben uns entschieden«, sagte Steves Vater.

David ließ von seiner Arbeit ab und kam heran. »Ja, das ist eine gute Wahl.«

Steve sah das etwas anders. Seine Eltern hatten am Ende eines der Fotos ausgewählt, das denen aus den letzten Jahren am ähnlichsten war. Er überlegte kurz, ob er vorschlagen sollte, zwei Familienporträts für die Karten auszusuchen, aber beließ es bei dem Gedanken. Seine Mutter hatte ihre starre Körperhaltung im Laufe des Shootings nicht abgelegt, und Steve wollte weiteren Stress vermeiden.

Ich werde noch ein paar Kleinigkeiten retuschieren und dann …«

»Retuschieren?«, fiel Mrs. Carter David mit entsetzt hoher Stimme ins Wort. »Aber doch wohl nicht diese furchtbaren Filter, mit denen man nicht mehr wie ein Mensch aussieht!«

»Natürlich nicht«, antwortete David und diesmal glaubte Steve, einen Hauch von Empörung herauszuhören. »Es wird nicht mehr sein, als Mr. Greene daran gemacht hat.«

»Unsere Bilder wurden die ganze Zeit bearbeitet?«

»Das ist in der Fotografie normal und ist etwas anderes als nur einen Filter über ein Foto zu legen, das mit dem Handy gemacht wurde.« Er zoomte in das ausgesuchte Bild hinein und zeigte auf ein paar Hautrötungen an den Wangen von Mrs. Carter. »Das würde ich angleichen.« Er ging weiter zu Steve. »Oder hier ein paar der abstehenden Härchen entfernen. Das verändert nicht das ganze Bild, sondern rundet nur den Gesamteindruck ab.«

»Ich verstehe.« Mrs. Carter klang skeptisch.

»Mr. Hanson wird sicher wissen, was er tut«, bekam David Unterstützung von Steves Vater.

»Ich studiere seit vier Semestern Kunst und Design, mit Schwerpunkt auf Fotografie, machen Sie sich keine Gedanken.« David wechselte den Blick zu Steve. »Möchtest du mit den Einzelbildern anfangen?«

Steve nickte eilig, bevor seine Mutter noch etwas sagen konnte. Er hätte sich gerne für ihr Verhalten bei David entschuldigt, aber er wusste nicht, wie er das tun sollte, ohne dass sie etwas davon mitbekam.

»Dann stell dich mal wieder vor die Leinwand.«

Das gesamte Licht im Raum war auf Steve gerichtet, sodass seine Eltern für ihn im Schatten verschwanden. Er sah nur noch David, der sich mit der Kamera vor ihn stellte und die Brille auf den Kopf schob.

»Locker stehen und lächeln«, gab David erneut Anweisungen.

Steve zog die Mundwinkel leicht nach oben, so wie er es in den letzten Jahren auch bei Mr. Greene getan hatte, und wartete auf das Klicken des Auslösers. Aber es kam nicht. David senkte die Kamera.

Ihre Blicke trafen sich. Es war das erste Mal, dass Steve David ohne die Spiegelung in den Brillengläsern direkt in die Augen schauen konnte. Die Farbe konnte er aus seiner Position nicht erkennen, aber trotzdem zogen sie Steve in ihren Bann. Dieses Anstarren war ihm beinahe noch peinlicher als das Verhalten seiner Mutter.

»Wir sind doch hier nicht beim Schulfotografen«, kam es schließlich von David mit einem Hauch von Enttäuschung in der Stimme. »Zeig mal, wie du lachst, wenn du mit Freunden unterwegs bist«, forderte er ihn auf.

Unterwegs … Guter Witz. Steve konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal entspannt mit Freunden unterwegs gewesen war. Die Schule vereinnahmte ihn völlig und die einzige Zeit, die er mit jemand anderem als sich selbst verbrachte, war Sarah – wenn sie zusammen lernten.

Aber das konnte David nicht wissen.

Steve bemühte sich, Davids Wunsch umzusetzen. Seine Enttäuschung machte ihn betroffen. Er fühlte sich schlecht deswegen. Der Student steckte so viel Liebe ist die Fotografie, und er war nicht in der Lage, ein vernünftiges Lachen für ihn hinzubekommen.

Nach zwei weiteren Aufnahmen schaute David hinter der Kamera hervor. »Zeig mir mal, wer du bist«, sagte er.

Steve starrte David irritiert an. Wer ich bin?

Ob David auch nur im Geringsten ahnte, was er damit ausgelöst hatte? Steves Gedanken wurden von einer Flut an Überlegungen überrollt. Wer war er? Wie sah er sich selbst und wie sehr unterschied sich das davon, wie andere ihn sahen?

Zögerlich ging Steve zu dem Spiegel. Der junge Mann, der sich in der Oberfläche abbildete, entsprach dem, wie seine Mutter ihn gerne sah. Nicht wie er sich wohlfühlte. Steve zog das Jackett aus und legte die Krawatte ab. Er spürte den mahnenden Blick seiner Mutter im Rücken.

Zeig mir, wer du bist, wiederholte er Davids Worte in Gedanken.

Steve fuhr sich entgegen der Wuchsrichtung durch die Haare. Im Raum war es still, die Weihnachtsmusik aus der Mall drang nicht bis in den hinteren Bereich des Studios, und Steve konnte das scharfe Einatmen seiner Mutter hören.

Er verharrte, wartete ab, ob sie etwas sagte. Es kam nichts. Er stellte sich zurück auf den Platz und erinnerte sich daran, wie er an einem Tag im Sommer Skateboard gefahren war. Nicht einmal der Regen am frühen Abend hatte ihn nach Hause getrieben. Er hatte jeden Moment genossen, als ihm die Tropfen ins Gesicht gefallen waren und den Schweiß von seiner Haut gewaschen hatten. Es war einer der Tage, an dem es ihm verdammt gut gegangen war. Die Erinnerungen daran ließen ihn grinsen.

»Ja, viel besser!«, rief David. Der Auslöser klickte mehrfach. »Das ist das Lachen, das ich sehen wollte.«

Dann kamen seine Eltern dran und Steve durfte in der Zeit die Aufnahmen von sich durchsuchen. Dabei musste er immer wieder zu David schauen – wenn er mit der Kamera hantierte, lächelte er zufrieden. Er war ganz in das vertieft, was er tat. Diese Hingabe zur Fotografie zeigte Steve, dass es sich nicht nur um einen Job neben dem Studium handelte. David liebte, was er tat. Steve wünschte sich eines Tages auch eine solche Leidenschaft für etwas zu finden, das ihn einen großen Teil seines Lebens begleiten würde – einen Beruf, in dem er aufgehen konnte und den er nicht nur ausübte, weil er damit seine Miete bezahlen konnte.

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