Run jump and trust your heart

Nathaniels Leben hat sich zum Positiven gewendet. Er hat mit Jill eine Freundin, die seine Leidenschaft für Parkour teilt. Gemeinsam suchen sie nach neuen Herausforderungen, um immer wieder an ihren Grenzen zu kitzeln. Außerdem beobachten sie, wie es zwischen Aiden und Sarah zunehmend knistert.

Es könnte nicht besser laufen, bis Nathaniel ein Brief von seinem Vater erreicht, der mit einem Schlag die alten Wunden aufreißt.

Auch Aiden kämpft mit sich. Angeheizt von seiner Abneigung gegen Nathaniel, distanziert sich sein Bruder Calvin zunehmend von seiner Familie. Damit manövriert er sich in eine heikle Situation. Aiden bleibt nur wenig Zeit, um ihm zu helfen. Dafür muss er sich entscheiden, wem er sich anvertraut.

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Kapitel 1

Nathaniel strich Jill durch die Haare. Sie lag mit ihrem Kopf auf seinem Schoß und beobachtete den dunklen Himmel mit den unzähligen leuchtenden Punkten, in der Hoffnung auf eine Sternschnuppe.

Im Lagerfeuer knisterte das trockene Holz, das Meer lag bis zum Horizont vor ihnen. Der Wind des Tages war abgeflaut. Die Wellen hatten ihre Schaumkronen verloren und streichelten den Kies des Strandes. Ihr gleichmäßiges Rauschen bestimmte den Ton der Umgebung.

»So kann es bleiben«, murmelte Steve und gähnte herzhaft, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Nathaniel sah mit einem Lächeln zu ihm hinüber und nickte. Es ging ihm gut. Er hatte seine Freunde um sich, mit denen er den gesamten Tag am Strand in der kleinen Bucht, ein Stück abseits von Port Cliff, verbracht hatte. Die Unruhe, die er sein Leben lang in sich getragen hatte, legte sich wie die Wellen. Die Wut und die einstige Hilflosigkeit seinem Vater gegenüber, zog sich mit jedem Tag, den er ihn hinter Gittern wusste, zurück.

Nathaniel war innerlich ruhig. Ja, das konnte so bleiben.

»Es sind nur eineinhalb Monate bis zu den Ferien. Das halten wir auch noch aus. So wie jedes Jahr«, sagte Sarah.

»Nur?«, fragte Steve empört. »Hast du auf dem Schirm, wie viele Tests wir bis dahin schreiben?«

Sarah winkelte die Beine an. »Ich schaue immer nur auf die nächste Woche, alles andere ignoriere ich, bis es so weit ist. Sonst mache ich mich verrückt.«

»Das würde ich auch gerne«, raunte Steve.

»Lasst mich raten, der alte Smith schreibt, bis zu den Ferien, mindestens jede Woche einen Test?«, wollte Nathaniel wissen.

»Auch«, antwortete Steve resigniert. »Habt ihr noch Platz in der Klasse? Ich habe echt keinen Bock mehr.«

Das glaube ich ihm sofort. Nathaniel war nur drei Monate an der Schule von Steve und Sarah gewesen. Aber das hatte gereicht. Der Druck seines Vaters und die hohen Anforderungen der Schule, hatten ihm, wie ein Vampir, die Kraft ausgesaugt. Das Aufstehen am Morgen war ein Kampf gewesen und abends hatte er nur schwer in den Schlaf gefunden. Nathaniel hatte sich in einem Hamsterrad befunden, angetrieben von anderen, deren Tempo er nicht mitgehen konnte.

Wie lange er das noch hätte aushalten können, wenn er sich nicht von seinem Vater befreit hätte? Er wusste es nicht. Eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Sein Leben war zu lange davon bestimmt gewesen, die Augen zu schließen und irgendwie weiterzumachen. Er war froh, dass dies vorbei war.

»Ja, danke auch«, beschwerte sich Sarah. »Lass mich da ganz allein. Wenn du gehst, komme ich auch mit.«

»Als würden deine Eltern das erlauben.«

»Eher als deine.«

»Bleibt lieber da, wo ihr seid«, sagte Aiden. »Vielleicht ist es bei uns leichter, aber die Schule ist so schlecht, da bekommst du nie ’nen Studienplatz.«

»Doch schon. Aber du musst halt echt gut sein.« Jill setzte sich auf und wandte sich an Nathaniel. »Also richtig, richtig gut. Deswegen verstehe ich auch immer noch nicht, warum du zu uns gekommen bist. Du hättest andere Möglichkeiten gehabt.«

Es gab so viele Antworten, die Nathaniel ihr geben könnte. Für einen neuen Anfang in neuer Umgebung, wieder auf fremde Menschen treffen, an die er sich gewöhnen musste, dazu hätte er nicht mehr die Kraft gehabt. Die Aufarbeitung der Vergangenheit war ein Berg, den er erklimmen musste, und er wollte all seine Energie darauf verwenden. Wenn er das Hier und Jetzt nicht in den Griff bekam, wie sollte er da eine Zukunft haben? Nathaniel wollte daran arbeiten, wieder stabil im Leben zu stehen und herauszufinden, wer er war. Zu stark war der Einfluss seines Vaters gewesen, um ihn in eine Richtung zu lenken, die Nathaniel selbst zuwider war. Aber ihm hatten die Kraft und auch der Mut gefehlt, sich ständig dagegen aufzulehnen, sodass er – ungewollt – einen Teil der Vorstellungen seines Vaters hingenommen hatte. Diese musste er loswerden.

»Nathaniel?«

Er blinzelte. Jill sah ihn an, der Blick ihrer blauen Augen durchbohrte ihn und suchte nach der Antwort, der er ihr immer noch schuldig war.

»Weil ich bei euch sein wollte.« Es war die kürzeste Antwort gewesen. Sie kam aus seinem Herzen und war von seinem Verstand mit einem Lächeln abgenickt.

»Will ich auch«, kam es von Steve mit einem Seufzer.

Nathaniel sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verständnis an und hoffte, dass er Ersteres nicht mitbekommen hatte. Steves Eltern waren streng. Nicht narzisstisch, wie sein Vater es war, aber viel leichter hatte Steve es dennoch nicht. Nathaniel verstand, dass er aus allem ausbrechen wollte. Er konnte nicht zählen, wie oft er selbst hatte wegrennen wollen. Wenn er seinen Freund jetzt so entspannt dort liegen sah, dann erinnerte es ihn an sich selbst. Damals vor drei Monaten. Je weiter er von seinem Vater entfernt war, desto besser war es ihm gegangen. Er wünschte Steve, dass er sich auch eines Tages von den Erwartungen und dem Druck seiner Eltern befreien konnte.

Nur vielleicht etwas weniger dramatisch.

»Ich würde auch lieber mit euch allen auf eine Schule gehen. Aber was bringt es, darüber nachzudenken? Wir müssen da jetzt noch ein Jahr durch, dann ist es vorbei«, sagte Sarah.

»Ich weiß.« Steve drehte sich auf die Seite, zum Meer. »Ach, da fällt mir ein: Mrs. Bandlow hat mich Freitag auf dich angesprochen, Nathaniel.« Er drehte sich zurück und stützte seinen Kopf auf der Hand ab. »Sie will wissen, wie es dir an der neuen Schule geht.«

Dafür, dass Mrs. Bandlow als so strenge Schulleiterin gilt, macht sie sich ganz schön Gedanken. Nathaniel dachte kurz an sein Gespräch mit ihr zurück. Es war der Anfang vom Ende gewesen, das ihn und seine Mutter endlich von seinem Vater befreit hatte. »Sag ihr, dass es mir gut geht. Ich komme mal vorbei, vielleicht ist sie dann ja da.«

»Dann musst du dich aber beeilen.«

Nathaniel schaute zu Sarah. »Wieso?«

»Sie geht zum Ende des Schuljahres in Rente. Ich hatte gehofft, sie bleibt noch, bis wir unseren Abschluss haben«, antwortete Steve.

»Ich auch«, stimmte Sarah zu. »Das Letzte, was ich brauche, ist in meinem Abschlussjahr noch ein übermotivierter junger Schulleiter, der meint, alles auf den Kopf stellen zu müssen, weil er irgendwelche neuen Ideen hat.«

Aiden lehnte sich zurück. »Bei uns gehen die auch alle, aber nicht in Rente. Da hält kaum einer länger als zwei Jahre durch.« Dann stand er auf. »Ich will noch zu den Steinen, kommst du mit, Sarah?«

»Gerne.« Sie sprang auf. Nah beieinander gingen sie zu den Felsen, die wie ein Steg weit ins Meer hinausführten. Ihre Aufreihung wirkte im ersten Moment künstlich, als hätte sie jemand absichtlich so platziert. Wenn man aber genauer hinsah, konnte man erkennen, dass sie einst zusammengehörten und von den Wellen zu ihrem heutigen Bild geformt waren.

Jill sah Aiden und Sarah nach. »Ich glaube, da bahnt sich was an.«

Der Halbmond spendete noch genug Licht, damit sie gefahrlos von einem Felsen zum anderen springen konnten. Aiden übernahm die Führung und drehte sich nach jedem Sprung zu Sarah um. Ohne Schwierigkeiten folgte sie ihm bis zum letzten Felsen und setzte sich zum ihm an den Rand. Sarah öffnete den Zopf und ließ den sanften Wind mit ihren langen, schwarzen Haaren spielen.

»Könnte sein.« Nathaniel lächelte. Die beiden hatten schon gut zusammengearbeitet, als alle seine Freunde bei der Renovierung der Wohnung geholfen hatten. So waren sie fertig geworden, bevor seine Mutter das Krankenhaus verlassen konnte.

»Könnte?« Jill grinste. »Die Funken kann man doch fliegen sehen.«

»Sie schreiben in jeder Pause.« Steve setzte sich auf. »Ich bin komplett abgemeldet.« Er lachte und wandte sich dann an Nathaniel. Seine Mine wurde deutlich ernster. »Wie geht es dir wirklich? Ich mag vor Sarah nicht fragen, sie nimmt sich alles so schnell zu Herzen.«

Verwirrt sah Nathaniel Steve an. »Gut, habe ich doch gesagt.«

»Das hast du früher oft und dann«, Steve zögerte kurz, »na ja, dann war es ganz anders.«

Nathaniel sah ins Feuer. »Es kommt drauf an, wie man es sieht. Im Gegensatz zu vor ein paar Monaten, geht es mir sehr gut. Ich stehe nicht mehr den ganzen Tag unter Strom. Heute war ich entspannt. Auf einer Skala von eins bis zehn, eine gute Acht.«

»Okay, wo warst du, als dein Vater noch bei euch gelebt hat?«, fragte Jill so leise, dass Nathaniel glaubte, sie hätte es überhaupt nicht laut aussprechen wollen.

»An guten Tagen? Vielleicht eine Zwei?« Er zuckte mit den Schultern. Es war schwer, dies im Nachhinein zu beurteilen. Schließlich lernte er jetzt erst, was es bedeutete, frei zu sein. Ein Tag wie der heutige hätte vor einem halben Jahr noch die Skala gesprengt.

»Wenn ich helfen kann, dann sag es, ja?«

Nathaniel nickte Steve zu. »Ich werde daran denken.«

Er hat es selbst nicht leicht und ist immer der Erste, der mit Hilfe anbietet.

»Den Ton von dir kenne ich. Am Ende willst du wieder alles allein durchstehen. Jill, pass auf ihn auf.«

Sie nahm Nathaniels Hand und drückte sie fest. »Natürlich.«

»Am schlimmsten ist es kurz vor dem Einschlafen. In der Wohnung knackt es oft und dann schrecke ich zusammen, weil ich denke, dass mein Vater plötzlich da ist. Obwohl ich genau weiß, dass das nicht sein kann.« Nathaniel schüttelte den Kopf. »Total bescheuert, ich weiß.«

»Das ist nicht bescheuert. Du warst ständig in Alarmbereitschaft, das muss dein Körper erst mal rauskriegen.«

Er wusste, dass Jill recht hatte. Trotzdem fand Nathaniel es blöd, mehrfach die Nacht wach zu werden und sich dann jedes Mal daran erinnern zu müssen, dass sein Vater nicht da sein konnte. Zumindest schlief er mit dem Gedanken schneller wieder ein.

»Er kann aber nicht früher aus der Haft kommen?«, wollte Steve wissen. »Ich meine so gut, wie er andere täuschen kann.«

»Nein.«

»Nicht, wie er sich aufgeführt hat.« Jill rollte mit den Augen.

Nathaniel konnte dem nur zustimmen. Er war erst nicht begeistert gewesen, dass Jill ihn zum Prozess gegen seinen Vater begleiten wollte. Seine Meinung hatte sich jedoch schlagartig geändert, als sein Vater den Gerichtssaal betreten hatte. Es hatte ihm geholfen, Jill die ganze Zeit in seinem Rücken zu wissen. Dank ihrer mentalen Unterstützung war es ihm gelungen, die Unruhe unter Kontrolle zu behalten.

Der Blick seines Vaters war, die ganze Zeit über, voller Hass gewesen. Für ihn war Nathaniel an allem Schuld. Sein eigenes Verhalten zu hinterfragen, kam ihm nicht in den Sinn. Als sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter zuzog, verlor er die Kontrolle. Seine manipulative Seite wurde von der Aggressivität verdrängt. Sein Anwalt hatte ihn mehrfach darauf hinweisen müssen, dass es sich schlecht für ihn auswirken würde, wenn er Sohn und Frau ständig ins Wort fiel. Daraufhin hatte er nur noch mehr getobt. Schließlich würden sie alle nur Lügen über ihn verbreiten.

»Ich bin einfach froh, dass es jetzt vorbei ist. Meine Mutter ist glücklich mit Jason und ich habe euch. Mehr brauche ich im Moment nicht.«

Jill lehnte sich an ihn. »Und ich bin froh, dass ich dich hab.«

Nathaniel legte den Kopf in den Nacken und beobachtete die Sterne über sich. Er war zufrieden. Innerlich ruhig. Ja, die Schule mochte ihm nicht die besten Aussichten bieten. Ja, er hätte andere Möglichkeiten gehabt. Nach so vielen Jahren, die er fremdbestimmt gewesen war, war es sein einziger Wunsch, von einem Moment zum nächsten zu leben.

Die Zukunft? Die war vollkommen offen. Wer sollte schon wissen, was in einer Woche passierte oder in einem Tag? Was für ihn zählte, war das Heute. Er wollte nur sich selbst finden, ohne dass ihm jemand seine Vorstellung davon aufdrückte.

 

 

 

Kapitel 2

 

Der Streit zweier Möwen weckte Nathaniel am nächsten Morgen. Er rieb sich die Augen, tastete nach seiner Brille, die neben seinem Kopf im Schlafsack lag. Die weißen Flecken auf dem Blau über ihm formten sich zu Wattewolken. Ein Flugzeug zog über den Himmel und hinterließ Kondensstreifen.

Nathaniel kroch aus dem Schlafsack. Eine der beiden Möwen trug etwas im Schnabel, was die andere für sich gewinnen wollte. Im Kampf um die Beute, jagten sie sich gegenseitig über den Strand.

Die Sonne stand dicht über den Wipfeln der Wälder auf der anderen Seite der Küstenstraße. Nathaniel schloss die Augen, als das erste warme Licht des Tages auf sein Gesicht fiel. Die Freunde waren am Abend noch lange wach geblieben. Jill hatte die Sterne beobachtet, bis ihr die Augen zugefallen waren. Mit ihrer Hand in Nathaniels. Sie bei sich zu wissen, und das leise Rauschen der Wellen, hatte Nathaniel sanft in den Schlaf getragen. Eine Nacht ohne Alpträume. Ohne Aufschrecken. Nur begleitet von der Schwere der Müdigkeit.

So könnte es bleiben. Nathaniel drehte sich zum Meer. Im Gegensatz zu Nacht war der Wind aufgefrischt. Die Wellen trugen kleine Kronen und kamen deutlich weiter auf den Strand. Am Abend war der erste Felsen aus der Reihe noch vollständig trocken gewesen, jetzt überspülte ihn das Wasser, wenn es auf das Land traf.

»Hm.« Nathaniel biss sich auf die Unterlippe. Es kitzelte ihn, einen kleinen Run zu versuchen. Eine kleine Challenge. Er würde nur den Moment abpassen müssen, wenn sich die Wellen zurückzogen. Eigentlich ganz einfach.

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, zählte er die Sekunden, die das Meer den Stein freigab. Das reicht locker.

»Na, willst du es noch mal ausnutzen?«

Er zuckte, als Jill ihre Hand auf seine Schulter legte. Nathaniel schaute zu ihr. Der Wind wehte ihren Pony aus der Stirn. Ihre Augen waren noch vom Schlaf verquollen und gleichzeitig blitzte es in ihrem Blau herausfordernd auf.

»Wolltest du etwa den ganzen Spaß für dich allein haben?« Jill grinste ihn an.

»Habe ich dich geweckt?«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt sich an seinen Schultern fest. »Du weichst aus.«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete er schnell.

Jill ließ ihn los und wandte sich zu den Felsen. »Das will ich dir auch geraten haben. Also«, sie stemmte die Hände in die Hüften, »legen wir los?«

»Ich wollte eigentlich erstmal prüfen wie glatt die Steine … Hey, Jill, warte auf mich!« Er schüttelte den Kopf und lachte. Als sie das erste Mal aufeinandergetroffen waren, hatte sie es genauso gemacht: Ihn auf liebevolle Art provoziert und war dann vorausgestürmt. Die Revanche dafür hatte sie, ein paar Tage später, als Jill und Aiden ihm diesen Platz zeigten, bekommen. Da hatte er sie überrumpelt.

Seit diesem Tag spielten sie dieses Spiel regelmäßig.

Jill sprang auf den ersten Felsen, bevor die Wellen ihn wieder unter sich begruben, und dann sofort auf den nächsten. Dort drehte sie sich um. »Was ist? Willst du etwa wieder einschlafen?«

Ihre Stimme mischte sich unter das Meeresrauschen und das Kreischen der beiden Möwen, die ihren Kampf um die Beute unerbittlich fortführten.

»Sicher nicht.« Nathaniel wartete eine weitere Welle ab, dann sprintete er los. Er sprang, berührte mit den nackten Füßen den Felsen und stieß sich sofort wieder ab.

»Ah, doch nicht eingeschlafen.« Jill lächelte ihn an. »Weiter?«

»Sicher.«

Jill sprang zuerst. Nathaniel schaute kurz in das Wasser zwischen den Gesteinen. Wenn die Sonne hoch am Himmel stand und das Meer ruhig war, konnte man manchmal ein paar Fische beobachten. Heute war es nur dunkel.

Dann ging er einen Schritt zurück und hielt kurz inne, um diese Zufriedenheit, die sich in ihm aufbaute, zu genießen. Vor der Verurteilung seines Vaters hatte er dies kaum gekannt. Er lief gut und es konnte sicher noch besser werden.

»Du bist viel besser geworden«, kommentierte Jill voller Anerkennung, als er neben ihr auf dem letzten Felsen aufsetzte.

»Ach?«

»Leichter. Freier.« Jill zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll.«

»Ich weiß schon, was du meinst.« Nathaniel schaute zum Horizont. Ein Schiff wurde auf seinem Weg dorthin immer kleiner. »Ich würde gerne wissen, wie viel noch in mir steckt.«

»Dann bist du bereit für etwas mehr Herausforderung?«

Er nickte.

Jill warf einen kurzen Blick zurück zu den anderen. »Kannst du haben. Es gibt da ein paar Stellen, in dem alten Industriegebiet, bei denen du mehr Skill als in der Halle brauchst.«

»Aber?«

»Aber was?«

Nathaniel folgte Jills Blick bis zu seinen Freunden, die noch friedlich am ausgeglühten Lagerfeuer schliefen. »Irgendwas hast du.«

»Ich hatte doch diesen Unfall.« Sie zeigte auf ihre Narbe am Knie.

»Ja.« Nathaniel erinnerte sich dunkel daran. Sie hatte es als Grund genommen, um seinen Ellenbogen nach dem Sturz, versorgen zu dürfen. Aber ob sie dabei ins Detail gegangen war, wusste er nicht mehr. An dem Tag waren seine Gedanken zu sehr von der Wut auf seinen Vater vernebelt gewesen. Und von seinem ersten Kontakt mit Jill.

»Ich wollte mehr als ich konnte. Die Mauer war zu hoch für mich. Abstände schätzen, war damals auch noch nicht meine Stärke gewesen. Dann ist es eben passiert. Seitdem war ich nicht mehr dort, weil Aiden sich Sorgen machen würde. Aber ich will es jetzt noch einmal versuchen.« Jill sah wieder zu Nathaniel. »Kommst du mit?«

»Klar, dann kann ich aufpassen, dass du es nicht übertreibst.«

»Du bei mir? Das wäre jetzt neu.«

»Darf doch auch mal sein, oder?«

»Dann am Samstag am alten Wasserturm. Und kein Wort zu Aiden, verstanden?«

»Verstanden.«

 

**

 

Erst gegen Mittag packten die Freunde ihre Sachen zusammen und machten sich mit ihren Fahrrädern auf den Weg zurück nach Port Cliff. Immer entlang der Küstenstraße mit ihren Buchten, steilen Hängen, Felsen und den Wäldern auf der anderen Seite. Die Sonne hatte sich gegen die Wolken durchgesetzt und ließ den Pazifik glitzern.

Es war noch gar nicht lange her, dass Nathaniel die Strecke zum ersten Mal gefahren war. Damals hatte sich noch alles in ihm verkrampft, als die markanten Klippen der Stadt in Sichtweite gekommen waren. Der Gedanke auf seinen Vater zu treffen, hatte fast alle schönen Erinnerungen des Tages aufgezehrt und mit sich gerissen.

Das war jetzt anders. Der vergangene Tag hallte in all seinen bunten Farben nach. Nathaniel konnte nicht einmal sicher sagen, ob das Ziehen in seinem Magen davon kam, dass er Hunger hatte oder es Muskelkater vom Lachen war. Vorausgesetzt, dass dies überhaupt möglich war. Die Vorstellung gefiel ihm gut, also hinterfragte er es nicht weiter.

Sie kamen an die Gabelung, die mehr war als nur eine Straßenkreuzung. Links ging es hoch zu den Klippen, einem recht neuen Baugebiet der Stadt. Die Einfamilienhäuser reihten sich aneinander und die Bewohner blieben gerne unter sich. Manche sahen diesen Teil der Stadt mehr wie ein eigenständiges Dorf an als zu Port Cliff gehörend. Nathaniel hatte ein halbes Jahr dort gelebt und sich nur wenig um die imaginären Grenzen gekümmert.

»Darf ich dich nach Hause bringen?«, fragte Aiden, als sie an der Kreuzung hielten.

Sarah schaute zu der Serpentinenstraße, die zu den Klippen führte. »Willst du dir echt den Umweg machen?«

»Ach.« Er winkte ab. »Das ist doch kein Umweg.«

Nathaniel, Steve und Jill sahen einander an. Es fiel ihnen schwer, das Grinsen zu unterdrücken.

Um Jills Augen bildeten sich Lachfältchen. Sie und Aiden waren wie Geschwister aufgewachsen und es amüsierte sie jedes Mal, wenn ihr Freund, der sonst ein lockeres Mundwerk hatte, Sarah gegenüber ganz handzahm, fast schon schüchtern wurde.

»Wenn du wirklich die Zeit hast, gerne«, antwortete Sarah.

Steve drehte sein Rad in die entgegengesetzte Richtung der Klippen. »Ich fahre noch zu David, wenn ich schon mal hier unten bin.«

»Okay, dann bis morgen.« Sarah winkte den anderen zu, bevor sie sich mit Aiden auf den Weg machte.

»Du wolltest nicht zu David, oder?«, fragte Jill.

»Wollen immer, aber geplant war es nicht. Ich dachte, die beiden hätten gerne noch etwas Zeit für sich und ich kann zu meinem Freund. Ist doch ein Win-Win für alle.«

Nathaniel sah Sarah und Aiden nach. »Wetten werden angenommen, wie lange sie noch brauchen, bis sie zusammen sind.«

»Lange«, antwortete Jill trocken.

»Ja, sehe ich auch so«, stimmte Steve zu.

»Meint ihr?«

»Du siehst doch, wie Aiden ihr gegenüber ist. Als würde er über einen gefrorenen See laufen und austesten, ob ihn das Eis trägt.«

»Besser kann ich es nicht beschreiben«, meinte Steve. »Erinnerst du dich, wie sie sagte, sie hätte noch nicht den oder die Richtige gefunden und dass sie es auf sich zukommen lassen will?«

Nathaniel nickte. Im gleichen Atemzug war Sarah damals auch davon ausgegangen, dass Nathaniel sein Herz an Jill verloren hatte. Zu der Zeit war er selbst nicht so weit gewesen.

»Ich glaube, sie hat noch nicht einmal richtig verstanden, was in ihr vorgeht.« Steve lächelte. »Irgendwie süß.«

»Kann gut sein.« Nathaniel hatte auch erst ernsthaft angefangen, über seine Gefühle für Jill nachzudenken, nachdem Aiden ihn direkt darauf angesprochen hatte. Um endgültig zu verstehen, was in ihm vorging, hatte es dann noch ein Gespräch mit Steve und David gebraucht. In seinen Vorstellungen war Liebe immer etwas gewesen, dass wie ein Blitz einschlug. Dass sie sich auch sanft einschleichen konnte, hatte er nicht auf dem Schirm gehabt.

»Auf jeden Fall ist es schön, sie zu beobachten. Das gibt mir mehr als jeder Liebesroman.«

»Du liest Liebesromane?«, fragte Nathaniel.

Mit eisigem Blick sah Jill ihn an. »Ist das so abwegig?«

»Nein«, antwortete er schnell. »Ich habe dich nur noch nie einen lesen sehen.«

»Willst du, dass ich von anderen Pärchen lese, wenn du da bist?« Jill gab ihrem Rad mit einem Bein Schwung und nahm Kurs auf den Rest des Heimwegs.

Nathaniel ließ die Frage unbeantwortet. Manchmal war es einfach besser, zu schweigen.

»Ich hätte das von ihr auch nicht erwartet«, flüsterte Steve.

»Sei bloß leise«, mahnte Nathaniel.

Sie fuhren am Rand des alten Industriegebietes entlang. Der Wasserturm ragte aus der Mitte heraus wie ein stummer Wächter der stillgelegten Anlagen. Hier begann das alte Port Cliff. Der Ort, an dem alles mit einem Sägewerk und einem Hafen begonnen hatte. Die ersten Siedler hatten sich während des großen Goldrausches niedergelassen. Die Holzverarbeitung war, bis zur Industrialisierung, die Haupteinnahmequelle der Stadt gewesen und dann der Schwerindustrie gewichen. An die goldenen Zeiten der Stadt, in der sie teils schneller gewachsen war, als man mit dem Bau neuer Wohnungen hinterhergekommen war, erinnerten heute nur noch wenig. Die Gebäude zerfielen und die Natur eroberte sie zurück. Die zunehmende günstigere Konkurrenz, aus anderen Ländern, und die sinkende Nachfrage an den hergestellten Gütern, hatte der Industrie in Port Cliff einen schleichenden Tod beschert.

Für Nathaniel und seine Freunde war dieser Ort zu einer Zuflucht geworden. In einer der vielen Hallen in der Nähe der alten Werft trafen sie sich, um ihre Parkour-Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Stunden, die Nathaniel alle Freiheit dieser Welt gaben, und er beobachtete seinen eigenen Fortschritt mit voller Zufriedenheit.

Bevor sie nach Port Cliff gezogen waren, hatte er das Gefühl, auf der Stelle zu treten, während sich alle anderen mit Siebenmeilenstiefeln weiterentwickelten. Nach dem Umzug hatte sein Vater dann den Druck so erhöht, dass es kaum noch weniger Zeit für das Training gehabt hatte. Nathaniels Ausdauer und Kraft waren zurückgegangen und seine Trainingskurve hatte einen ordentlichen Back-Flip gemacht.

Inzwischen hatte er sein Ziel, seinen alten Stand wieder zu erreicht, mehr als übertroffen. Mit freien Gedanken sprengte er eine persönliche Grenze nach der anderen und mit Jill hatte er eine Trainingspartnerin, die ihn noch zusätzlich anspornte.

Das Industriegebiet ging fließend in die Wohnblocks der alten Viertel über, wie sie die Bewohner nannten. Die Straße, die direkt an das Industriegebiet grenzte, glich einer Geisterstadt, doch je weiter die Freunde ihren Weg ins alte Viertel fortsetzten, desto mehr belebten sich die Straßen.

Auf der einen Seite reihten sich die schmalen, mehrstöckigen Wohnhäuser aus Backsteinen aneinander, oft mit kleinen Läden im Erdgeschoss und den typischen Feuerleitern an den Fronten. Die am Sonntag geschlossenen Läden waren mit dicken Rollläden gesichert.

Auf der anderen Seite standen schmale Bauten mit jeweils drei Stockwerken. Früher wohnte in jeder Etage eine Familie, inzwischen waren sie zu Einfamilienhäusern umgebaut.

Kinder fuhren mit ihren Rollern, ein Mann reinigte seine Einfahrt mit einem Hochdruckgerät. Eine Frau stand auf der Leiter und schliff einen Fensterrahmen. Jedes Haus hatte einen kleinen Vorgarten, so breit wie das Gebäude selbst. Bei den meisten grenzte ein kniehoher Zaun den Rasen vom Nachbargrundstück ab. Ein wenige Schritte langer Weg führte zu den Eingangstüren.

Auf den ersten Blick eine friedliche Idylle, wenn auch mit leicht heruntergekommenen Häusern und einer Straße mit Schlaglöchern, tief genug, dass man darin Fische aussetzen konnte, wenn Regen gefallen war. Die Stromversorgung verlief überirdisch. Kabel hingen an Masten über die Straße.

An einem von ihnen baumelten ein paar Schuhe. Es zeigte die traurige Seite dieses Stadtteils. Die Gangs waren ein fester Bestandteil, perspektivlos und angefixt durch billige Drogen, die das Elend für einen Moment erträglicher machten. Deren Verkauf versprach einen trügerischen Ausweg aus der Spirale, die sich dadurch nur noch weiter abwärts drehte. Starb ein Gangmitglied, hängten die anderen seine Schuhe über der Straße auf, um den Toten zu ehren.

Mit jedem Tag, den Nathaniel länger in dieser Gegend wohnte, schärfte sich sein Blick für die Umgebung. Er erkannte die Gangmitglieder, die sich in kleinen Gruppen an Bänken, Bushaltestellen oder in den Ecken von Supermarktparkplätzen sammelten. Jede Gang hatte ihr Revier. Anders als in den großen Städten wie Seattle oder L.A. beschränkte es sich in diesem Teil von Port Cliff auf einzelne Straßen oder Abschnitten von diesen. Oft hatten sie Shirts in einer Farbe, mit der sie sich identifizierten, oder trugen nur bestimmte Marken. Das machte es der Polizei auf der einen Seite leichter, konnte aber auch zu ungewollten Verdächtigungen führen. Grüne Shirts waren in Nathaniels Straße unvorteilhaft.

Steve verabschiedete sich an einer Kreuzung von ihnen. Wenige Minuten später blieben Nathaniel und Jill vor einem grauen Gebäude stehen. DOCTOR war in einem Graffiti Schriftzug im Bogen über der Tür geschrieben. Kurz nach der Übernahme der Praxis hatte Nathaniels Mutter einen jungen Mann erwischt, der sich mit Farbe an der Hauswand zu schaffen machte. Sie hatte ihm daraufhin die Wahl gelassen, ob sie die Polizei rufen sollte oder er ihr als Wiedergutmachung diesen Schriftzug über die Tür sprayte.

Nathaniel schaute Jill nach einem Abschiedskuss nach, bis sie um die Ecke gefahren war, dann schob er sein Rad in den Hinterhof. Durch den vorderen Eingang kam man in die Praxisräume, durch den hinteren ging es in das Treppenhaus, dass zu den anderen Stockwerken führte. Unter dem Dach wohnte Nathaniel seit drei Monaten mit seiner Mutter.

Mit Betreten der Wohnung kam ihm heiße, stickige Luft entgegen. Er stellte seinen Rucksack neben der Tür ab und riss alle Fenster auf. Im Moment war es draußen angenehmer als drinnen. Im Hochsommer würden sie hier richtig Spaß haben.

Nathaniel nahm eine Dusche und band sich die nackenlangen, braunen Haare nur zusammen. Zum Föhnen war es ihm eindeutig zu warm. Er entschied sich für ein spätes Frühstück. Seine Mutter würde sicher bald von Jason – ihrem neuen Lebensgefährten – zurückkommen und hatte vielleicht Hunger.

Er kniete sich vor das Regal mit der CD-Sammlung seiner Mutter, die sie über all die Jahre vor ihrem Mann retten konnte. Für ihn waren es nur nutzlose Staubfänger gewesen. Heute war schließlich alles digital. Da musste nichts herumstehen.

Nathaniel fuhr mit dem Zeigefinger über die Titel und zog dann eine CD von Queen heraus. Mit We will rock you im Ohr, suchte er alles zusammen, was er für ein paar Pancakes brauchte.

Er schlug die Eier auf und sang dabei leise mit. Als er die Milch, Eier und das Mehl mit dem Mixer vermischte, wurde er lauter, um das Gerät zu übertönen.

Singen, auch damit hatte er erst bewusst begonnen, seit er hier wohnte. Musik über den PC und Lautsprecher laufen zu lassen, hatte sich Nathaniel bei seinem Vater nicht getraut. Für ihn war es unnötiger Lärm, der ihn bei der Arbeit störte, wenn er denn mal zu Hause gewesen war. Kopfhörer waren keine Option gewesen. Auch jetzt richteten sich Nathaniels Nackenhaare auf, wenn er daran dachte, sein Vater hätte unbemerkt hinter ihm stehen können, weil er ihn durch die Musik nicht gehört hatte.

Nathaniel stellte die Pfanne auf den Herd. Der Song wechselte.

Wie viel habe ich wegen meines Vater nicht gemacht?

Da fiel ihm eine Menge ein, während er der Butter beim Schmelzen zusah. Eigentlich wollte er darüber nicht nachdenken, sondern lieber seine neuen Freiheiten genießen. Es waren so viele, dass er am Anfang nicht wusste, wie er damit hatte umgehen sollen. Er hatte sich wie ein Tier gefühlt, das man nach ewiger Käfighaltung in die Wildnis entließ. Auch heute ertappte er sich noch dabei, dass er erst überlegte, wie sein Vater reagieren würde, bevor er mit etwas begann.

Wann das aufhörte? Das stand in den Sternen. Aber es wurde weniger.

Nathaniel goss den Teig in die Pfanne, als er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde.

»Das riecht aber gut.« Seine Mutter kam schnuppernd in die Wohnküche. »Seit wann bist du schon hier?«

»Halbe Stunde oder so.« Nathaniel blieb mit seinem Blick bei dem backenden Pancake. Bei seinem ersten Versuch, nach dem Umzug, waren sie etwas sehr dunkel geworden. Fast wie Kohle.

»War es schön?«

»Ja, eigentlich wollten wir eher nach Hause, aber wir sind hängen geblieben.«

»Das ist gut.« Seine Mutter brachte ihre Tasche ins Schlafzimmer. »Dann brauche ich ja kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich mal eine Nacht nicht da bin.«

»Mum, ich bin siebzehn! Nicht sieben. Ich kann auf mich aufpassen.«

»Ja.« Sie schaute aus der Tür. »Ich war auch mal siebzehn.«

»Was soll das denn jetzt heißen?«

»Das weißt du genau.«

Nathaniel verzog das Gesicht. »Wie lange willst du noch darauf rumreiten?«, fragte er genervt.

Sie lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme. »Du hättest dich ja nicht betrinken müssen. Selbst schuld.«

»Wie hätten wir auch wissen sollen …«, begann Nathaniel seine Verteidigung, gab aber auf, als seine Mutter breit grinste. Zumindest war sie nicht mehr sauer auf ihn.

»Wer noch nie was getrunken hat, für den reichen eben auch kleine Mengen.«

Nathaniel schnaubte. »Danke. Das habe ich auch gemerkt.« Er nahm den ersten fertigen Pancake aus der Pfanne und legte ihn auf den Teller. »Willst du ihn?«

Spielerisch skeptisch hob seine Mutter eine Augenbraue. »Ich habe ein bisschen Angst, dass du mir gerade jetzt den ersten geben möchtest.« Sie lachte und nahm ihn dennoch an.

Wie hätte es sein können, wenn sie ihn schon viel eher verlassen hätte? Nathaniel hatte seine Mutter nie so viel lachen sehen wie in den vergangenen Monaten. Ihre Augen hatten diesen trüben Schleier verloren, hinter den er früher nur selten hatte blicken können.

Mit einem Teller voller Pancakes setzte er sich schließlich zu seiner Mutter an den Esstisch. Sie erzählten sich von ihrem Tag. Ganz entspannt, mit Lachen und voller Aufmerksamkeit füreinander. Es fühlte sich gut an.

Dennoch blieben bei Nathaniel Zweifel, ob es echt war. Er hatte sich zu oft selbst vorgespielt, dass alles in Ordnung war. Diese Welt, die er dort erschaffen hatte, war zu einer zweiten Realität, zu einem zweiten Nathaniel geworden. Er hatte oft den Eindruck, dass sein wahres Ich wie ein Geist neben einer toten Hülle stand. Irgendwann hatte er nicht mehr zwischen seinen echten Gefühlen und denen für die Außenwelt unterscheiden können.

»Barons Eltern haben mich gestern angerufen«, sagte seine Mutter.

Nathaniel hob ruckartig den Kopf. »Was wollten sie denn?« In seinem Magen braute sich sofort die Unruhe zusammen, sodass kein Stück Pancake mehr Platz hatte. Alles, was mit seinem Vater zu tun hatte, endete in der Regel schlecht.

»Uns besuchen.«

»Hältst du das für eine gute Idee?« Nathaniel war sich unsicher.

Seine Mutter lehnte sich zurück. »Sie haben sehr deutlich gemacht, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm haben und es auch nicht ändern wollen. Sie sind enttäuscht von ihm, können sich immer noch nicht vorstellen, wie er sie sein Leben lang so täuschen konnte. Also warum nicht? Du weißt genau, wie Baron war. Er hat so viele hinters Licht geführt, da machen seine Eltern keine Ausnahme, so selten, wie sie sich gesehen haben. Vielleicht hatte es auch genau diesen Grund, weil er Angst hatte, sie könnten ihn durchschauen.« Sie zwinkerte ihrem Sohn zu. »Du weißt, wir Mütter wissen oft mehr über unsere Kinder als sie denken.«

Grundsätzlich gab er seiner Mutter recht. Nur kannte er seine Großeltern kaum. Sein Vater hatte nur wenig Kontakt zu ihnen zugelassen und so waren sie für Nathaniel nur Familienmitglieder, die er ein paar Male im Jahr auf Feiern gesehen hatte. Eine Bindung zu ihnen hatte er nicht. Sein Opa war ein Workaholic wie sein Vater, seine Oma ein unbeschriebenes Blatt.

»Ich weiß nicht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll.«

»So wie du bist.« Sie lächelte ihn aufmunternd an.

Wie ich bin? Und welchen Teil von mir soll ich zeigen?

»Ich will, dass du mit darüber entscheidest. Wenn du sie im Moment noch nicht sehen möchtest, dann ist das in Ordnung.«

»Ich?« Nathaniel zeigte auf sich. »Warum?«

»Weil ich nicht über deinen Kopf hinweg entscheiden möchte. Du bist siebzehn, wie du so schön sagst. Wenn du den Kontakt nicht möchtest, dann-«.

»Nein, ist schon in Ordnung.« War es das wirklich? »Es kam nur etwas plötzlich.«

»Für mich auch und da wir schon mal dabei sind.« Ihre Stimme wurde ernst. Sie schob den Stuhl zurück und ging zur Kommode, nahm einen Brief aus der obersten Schublade und gab ihn Nathaniel. »Der ist schon am Freitag angekommen, aber ich wollte ihn dir nicht vorher geben, damit du das Wochenende genießen kannst.«

»Von seinem Anwalt?«, murmelte Nathaniel, als er den Absender las. Damit war er schon bedient.

»Ganz speziell an dich gerichtet.«

Nathaniel überflog die Zeilen. Mein Mandant vermisst seinen Sohn sehr und hat um ein baldiges Treffen gebeten? Er steckte den Brief zurück. »Hättest du mir das nicht vor dem Essen geben können? Ich könnte kotzen, wenn ich das lese.«

»Meine Anwältin geht davon aus, dass es sicher nur ein Versuch ist, einen guten Eindruck zu hinterlassen und vielleicht die Haft abzukürzen.«

»Dafür muss man nicht Anwalt sein.« Er schob seiner Mutter den Umschlag wieder zu. »Denkt er wirklich, dass ich auf sowas hereinfalle? Selbst wenn es echt wäre, könnte er mich mal.«

Nathaniel stand auf. Um seine Unruhe unter Kontrolle zu bringen, ging er in der Wohnküche auf und ab. »Kann er uns nicht einmal in Ruhe lassen, wenn er im Knast sitzt? Gehe ich nicht hin, kann er auf trauernden Vater machen, der alles bereut. Dann hat er wieder gewonnen, weil er es für sich nutzen kann. Wenn ich diese Einladung annehme, hat er auch gewonnen. Egal, was ich mache, irgendeinen Vorteil hat er immer.«

Und allein mit dem Brief hatte sein Vater es geschafft, wieder einen Teil des Platzes im Leben von Nathaniel und seiner Mutter zu erschleichen, der ihm nicht zustand.

»Baron ist zu lange mit allem durchgekommen. Deswegen wird er auch weitermachen. Das Einzige, was er kann, ist Menschen zu manipulieren.«

Nathaniel schaute zu seiner Mutter. Der Glanz war aus ihren Augen gewichen. Vor ihm saß zwar nicht die ängstliche Frau, die er gefunden hatte, nachdem sein Vater sie eingesperrt hatte. Aber ihre starre Haltung und der fest auf den Umschlag gerichtete Blick zeigten, wie hilflos und wütend sie sich in der Situation fühlte.

Nathaniel ging es genauso.

Er ist nicht dumm. Aber das war er ja nie, sonst hätte er nicht die ganze Zeit alles so unter Kontrolle haben können. Was mache ich jetzt?

Sein Vater hatte es geschafft, ihn aus dem Gefängnis mit dem Rücken an die Wand zu manövrieren. Wie manipulativ konnte ein Mensch sein? Sicher würde jeder Richter, der sich in die Akten einlas, verstehen, wenn Nathaniel nicht hinging. Trotzdem begehrte eine leise Stimme in seinem Unterbewusstsein auf und kämpfte sich bis an die Oberfläche.

»Ich werde gehen.« Diese Stimme war schneller gewesen als sein Kopf.

»Was?«

»Um ihm deutlich zu sagen, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Seine Spielchen kann er sich sonst wohin schieben.«

»Du musst das nicht.«

Eigentlich wollte er es auch nicht. Noch bei der Verkündung des Urteils hatte Nathaniel sich geschworen seinen Vater nie wiederzusehen.

»Ich weiß.«

»Dann lass es doch. Du musst niemandem etwas beweisen«, widersprach seine Mutter.

»Ich will ihm noch einen Sieg nicht gönnen.«

»Hast du nicht gerade gesagt, egal, was du tust, es wird immer ein Sieg für ihn sein? Oder hast du irgendetwas vor?«

»Ich werde ihm sagen, dass er uns in Ruhe lassen soll.«

Seine Mutter stand auf und ging zu ihm. »Nathaniel, du hast genug durchgemacht. Ich kann ihm das auch durch unsere Anwältin sagen lassen. Das musst du nicht tun.«

»Wenn ich ihn eine Woche zappeln lasse, denkt er sicher, ich wäre eingeknickt. Er glaubt, er hat mich in der Hand, weil ich Angst vor ihm habe. Habe ich aber nicht. Ich stelle mich ihm.«

»Schlaf über deine Entscheidung, ja? Das ist jetzt aus dem Bauch heraus und sicher mit einer Menge Wut entstanden.«

»Deswegen will ich ja auch noch etwas Zeit.« Außerdem musste er sich die Worte genau zurechtlegen und auf alle erdenklichen Szenarien vorbereitet sein. Sein Vater glaubte, er kannte seinen Sohn. Das tat er nicht. Aber Nathaniel hatte verstanden, wie sein Vater funktionierte.

Seine Mutter legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihm tief in die Augen. »Ich will nicht, dass er dir noch einmal wehtut. Überleg es dir gut.«

»Ich schaffe das«, antwortete Nathaniel voller Überzeugung. Schließlich hatte er ihm schon zweimal gezeigt, wozu er fähig war, wenn es sein musste.

»Das bezweifle ich auch gar nicht. Dennoch …« Seine Mutter knetete ihre Hände.

War es Teil des Plans seines Vaters? Seine Ex-Frau unsicher zu machen und einen Keil zwischen Mutter und Sohn zu treiben? Das konnte er vergessen!

»Er kann mir nichts mehr. Da wird eine Wand zwischen uns sein und selbst wenn nicht, ich bin schneller und er weiß das.« Nathaniel zwinkerte selbstbewusst, um seiner Mutter die Sorge zu nehmen.

»Ja, das bist du.«

»Und seitdem bin ich noch mal eine Ecke besser geworden.«

»Ich war damals schon überrascht, was du konntest. Vielleicht sollte ich mir mal ansehen, was du so treibst.«

Nathaniel kratzte sich im Nacken. »Also, manches siehst du besser nicht.«

Seine Mutter lenkte bewusst auf ein anderes Thema. Das tat sie oft, wenn es zu viel wurde. Nathaniel machte es genauso und sie hatten sich inzwischen gut damit eingespielt. Das Thema war damit nicht erledigt, nur auf einen Zeitpunkt verschoben, in dem sie beide wieder die Kraft dafür hatten. Sicher hatte sie das ganze Wochenende darüber gegrübelt, wann und wie sie Nathaniel von dem Brief erzählen sollte. Morgen konnten sie weitersprechen. Ganz sicher.

»Nathaniel? Muss ich mir doch Sorgen machen, wenn du weg bist?«

»Nein, nein. Wir sind schon vorsichtig, aber wenn du es nur von außen siehst …« Er seufzte auf ihren forschenden Blick hin. »Ich frage Jill, ob sie beim nächsten Mal ein paar Videos macht, in Ordnung?«

»Und dann darf ich natürlich nur das sehen, was du für deine alte Mutter angemessen hältst?«

»Ganz genau.«

»Na gut. Ich denke mal, dass du beim Parkour mehr Kontrolle hast als beim Alkohol.«

»Mama!« Warum grub sie das jetzt schon wieder aus?

Sie lachte. »Das musste sein.«

Nathaniel verzog das Gesicht. »Das waren die Kopfschmerzen meines Lebens. Nie wieder mach ich das. Reicht das jetzt?«

»Na, dann hast du ja wenigstens draus gelernt.«

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