Auf den Schwingen der Träume

Die Begleiter, erschaffen aus der Fantasie der Kinder, sind für Erwachsene unsichtbar und werden als imaginäre Freunde angesehen. Davina ist eine von ihnen und von der Sorge geplagt, sich aufzulösen. Ein Schicksal, dem die Begleiter zum Opfer fallen, sobald die Kinder sie vergessen oder nicht mehr an sie glauben.

Vor acht Jahren hat Nian aufgehört Davina zu rufen. Sie verlor ihre Fähigkeit zu fliegen und ihre Farben vergrauten. Jetzt steht Nian kurz vor seinen Prüfungen und Davina stellt fest, dass Schreie stumm sein können.

Das Paradoxon bei den Menschen ist es, dass Fantasie als gut und schlecht zugleich angesehen wird. Sobald sie keine Kinder mehr sind, wird über sie der Kopf geschüttelt, wenn sie diese ausleben. Außer sie haben damit finanziellen Erfolg.

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Leseprobe

1

Zwei Monde spiegelten sich auf der glatten Oberfläche des Teiches wider. Der eine strahlend weiß, ohne einen einzigen Krater, der andere umgeben von regenbogenfarbenen Ringen. Hinter ihnen ein milchiges Band aus unzähligen Sternen.

Davina tauchte ihren Zeigefinger ins Wasser. Das Bild des Himmels verzerrte sich durch die Wellen und tauschte die Monde mit einem Blick auf die Hochhäuser von Peking bei Nacht. Das künstliche Licht überstrahlte alle Sterne, allein der Erdmond der Menschenwelt setzte sich dagegen durch.

Der Endpunkt des Portals befand sich auf einem Hausdach. Es war den Begleitern verboten, einen direkten Zugang aus ihrer Welt in die Zimmer ihrer Menschen zu haben. Vor sechshundert Jahren hatte es einen tragischen Vorfall gegeben, als es einem Kind gelungen war, die Welt der Begleiter zu betreten. Es hatte tödlich geendet.

Durch das Fenster des gegenüberliegenden Wohnhauses sah sie einen Jugendlichen am Schreibtisch sitzen. Vertieft in seine Aufzeichnungen, blätterte er in seinem Block, scrollte auf dem Tablet, schrieb etwas auf und tastete zwischendrin nach seiner Wasserflasche.

Nian, du bist fleißig. Ganz wie damals.

Sie lehnte sich vor, stützte sich auf den Händen ab, deren Ring- und kleine Finger in die letzten Spannen ihrer fledermausartigen Flügel ausliefen. Aber damit konnte sie das Bild, welches ihr der Teich zeigte, nicht heranzoomen.

»Davina?«

Sie hob den Kopf und schaute über die Schulter. Ein junger Mann in viktorianischer Kleidung und mit einem Rapier am Gürtel stand zwischen zwei der weißen Säulen des runden Tempels. Das Gebäude war angelehnt an die antike griechische Bauweise. Dicke Pfeiler, die nach oben hin schmäler wurden und Steinplatten mit filigranen Verzierungen trugen.

»Ja?«, fragte sie.

Er kam auf sie zu. Die winzigen gelben Blumen auf dem Rasen richteten sich sofort wieder auf, sobald sein Gewicht nicht mehr auf ihnen lastete. »Ich möchte dich nicht stören, aber du bist auf dem Weg hierher an mir vorbeigegangen, ohne auf meine Ansprache zu reagieren.«

»Wirklich?«, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

»Hast du Sorgen?« Er hockte sich neben sie und warf einen Blick ins Wasser. »Nian?«, wollte er wissen. Jetzt, da ihr Freund Davina nah war, konnte sie gut seine weißen Fänge sehen.

»Ja.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Achtzehn«, antwortete Davina knapp und richtete ihren Blick wieder auf den Jugendlichen. Er fuhr sich in diesem Moment durch die schwarzen Haare und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Dann müsste er jetzt kurz vor den Abschlussprüfungen stehen.«

»Ja, in China nennt man es Gao Kao. Es ist die nationale Hochschulaufnahmeprüfung. Nian lernt viel dafür.« Und Davina wusste, er würde sich keine Pause gönnen, wenn ihn niemand daran erinnerte. Einst war sie es gewesen, die auf seine Balance zwischen Lernen und Freizeit geachtet hatte.

Der Gedanke an die argwöhnischen Blicke seiner Eltern, wenn sie ins Zimmer kamen, während er Pause gemacht hatte, löste ein Frösteln in ihr aus. Sie schlang die Arme um den Körper und wickelte sich mit ihren Flügeln ein.

»Hast du Angst, dass er dich über das ganze Lernen vergisst?«, fragte der Vampir.

»Cor, ich …« Davina schloss die violetten Augen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, bemüht um eine feste Stimme. »Ich glaube, das hat er schon.«

»Was macht dich da so sicher?«

»Ich habe meine Farben verloren und statt fliegen kann ich nur gleiten. Bis ich mich auflöse, kann es kein großer Schritt mehr sein. Genau wie bei allen anderen, die vergessen wurden!«, rief sie empört von seinen Worten. Er hatte ihre Veränderungen in den letzten Jahren mitbekommen, wie konnte er da eine solche Frage stellen?

»Aber die anderen sind immer blasser geworden. Nie hat jemand vorher seine Farbe oder irgendwelche Fähigkeiten verloren«, gab Cor zu bedenken.

Womit er recht hatte. Ein solcher Fall war ihr nicht bekannt, aber irgendjemand musste ja der Erste sein.

»Woran soll es sonst liegen?«, fragte sie hilflos.

»Außerdem geht es nicht nur darum, dass ich verschwinde.«

Mit Neugierde in den roten Augen sah Cor zu ihr. »Was noch?«

»Nian war voller bunter Fantasie. Ich habe mit ihm die Welten in seinen Träumen bereist. Was in diesem Kind schlummerte, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Dann kam die Gesellschaft. Der Druck, der ihm Stück für Stück diese Kraft raubte und ihm verwehrt, mit dieser Gabe etwas zu tun. Das macht mich wütend.« Sie stand auf und breitete ihre Schwingen aus. Das Licht des weißen Mondes schimmerte durch die ledernen Spannen. »Ich wusste, dass wir irgendwann weniger Zeit miteinander verbringen. Aber er hat mich von einem auf den anderen Tag nicht mehr gerufen. Bei allen, die vergessen wurden, hat die Häufigkeit abgenommen und dann brach der Kontakt erst ab. Das verstehe ich nicht.«

Ein Lichtpunkt löste sich aus dem milchigen Sternenband und verglühte mit orangenem Schweif in der Atmosphäre. Die Menschen sagten, man solle sich etwas wünschen, wenn man eine Sternschnuppe entdeckte. Davina glaubte nicht daran, dass ein solches Ereignis mit der Erfüllung eines Wunsches zusammenhing. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie eine stumme Bitte an den Himmel richtete, noch einmal mit Nian sprechen zu können.

»Warum gehst du nicht zu ihm?«, fragte Cor.

»Und bringe ihn damit um?« Davina drehte sich auf einem ihrer greifvogelartigen Füße herum. »Wenn wir nicht von unserem Menschen gerufen werden, kann der Kontakt das Nervensystem unwiderruflich zerstören!«

»Ich weiß, aber sieh doch einmal genau hin. Nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Sein stummer Schrei ist so laut, sogar ich kann ihn hören.« Cor nickte in Richtung des Teiches.

»Stummer Schrei?«

»Das Paradoxon bei den Menschen ist es, dass Fantasie als gut und schlecht zugleich angesehen wird. Sobald sie keine Kinder mehr sind, wird über sie der Kopf geschüttelt, wenn sie diese ausleben. Außer sie haben damit finanziellen Erfolg. Dann werden sie bewundert.«

Davina musterte ihren vampirischen Freund. »Ja, was das angeht, habe ich die Menschen nie verstanden. Es wird nach kreativen Lösungen verlangt, aber bei Jugendlichen erwartet man, dass sie sich anpassen und die Flausen loswerden. Die Menschen nennen das den Ernst des Lebens, dabei unterdrückt es die Farben in ihnen. Es lässt die Musik schweigen und zwingt sie dazu ihre Gefühle einzuschließen. Sie zu zeigen, bedeutet oft Schwäche, die sich niemand eingestehen mag.« Sie weitete die Augen, als sie die Erkenntnis traf, worauf Cor hinausgewollt hatte.

Davina kniete sich vor den Teich. Sie legte ihre flache Hand auf der Wasseroberfläche ab. Diesmal zeigte sich das Bild unbeeindruckt von der Berührung, auch als ihre Flügel in das Wasser eintauchten.

Nians Gefühle hatten sich früher immer auf sie übertragen. Dafür hatte sie weder seine Welt betreten noch Kontakt zu ihm aufnehmen müssen. Es war von allein geschehen. In den letzten Jahren jedoch nicht mehr. Da hatte sie ihn nur aus der Ferne beobachtet und versucht seine Haltung zu interpretieren. Würde ihre Verbindung noch ausreichen, um seine Gefühle zu spüren, wenn sie es bewusst darauf anlegte?

Die Zeit um sie stand still. Die laue Brise, die durch den Tempel zog, hielt ihren Atem an.

Ein Flimmern regte sich in Davinas Herzen. Angst lag schwer in ihrem Magen, Verzweiflung kroch ihre Arme bis in den Nacken hinauf und als eisiger Schauer ihren Rücken herunter bis in ihren drachenartigen Schwanz. Die Frage, ob sie genug war, stellte sich ihr. Und da war Müdigkeit. Unendliche bleierne Müdigkeit, die sich in Körper und Geist festgefressen hatte, für die kein Schlaf ausreichte, um sie zu vertreiben.

Und unter alle dem ein Schrei. Kein gerufener Name, nur ein seelenzerreißender Schrei, aus all den angestauten Emotionen.

»Ich werde gehen«, sagte Davina und sprang in den Teich.

2

Die Luft war erstaunlich gut, verglichen mit ihrem letzten Besuch bei Nian. Davina hatte Peking als Stadt im Dunst in Erinnerung, aber davon war in diesem Moment nur wenig zu spüren.

Nian saß noch immer am Schreibtisch. Und nicht nur er alleine. Hinter drei weiteren Fenstern konnte Davina junge Menschen erkennen, die voller Konzentration über ihren Büchern hingen.

Ihr solltet um die Zeit schlafen, dachte Davina und schaute wieder zu Nian. Deine Eltern waren immer stolz auf dich, wenn du viel gelernt hast. Auch bis in den späten Abend hinein. Dabei warst du ein Kind.

Davina hatte ihm oft gesagt, dass es ihn kaputtmachte. Darauf hatte er sich nur umgedreht und mit einem Lächeln geantwortet, dass alle dies täten. Dass es normal sei.

Sie schüttelte den Kopf. Nur weil es normal ist, muss es nicht gut sein. Damals nicht und heute auch nicht.

Davina sprang von der Dachkante, der Wind fing sich in ihren Schwingen und trug sie lautlos auf die andere Seite. Geisterhaft glitt sie durch das Glas und landete hinter Nian in der Mitte des Zimmers.

Es hatte sich verändert. Der Spielteppich war einem in neutralem Beige gewichen. Statt des kleinen Tisches, an dem Nian immer gesessen und gemalt hatte, stand ein Schreibtisch. Natürlich war auch das Bett größer geworden.

Ich habe dein Gesicht lange nicht gesehen. Davina streckte die Hand nach ihm aus und zog sie sofort wieder zurück. Solange er sie nicht rief, wäre ihre Berührung für ihn nur der eisige Schauer, der ihm über den Rücken lief.

Nian fiel der Stift aus der Hand. Er griff danach, aber der Kugelschreiber rollte vom Tisch.

»Du hast wohl genug für heute«, murmelte der junge Mann. Seine Stimme war tiefer geworden.

Nian rollte mit dem Stuhl zurück und krabbelte dann unter den Schreibtisch. Er schnappte den Stift und als er aufstehen wollte, stieß er mit dem Kopf kräftig an die Kante.

»Au«, fluchte er und rieb sich den Hinterkopf. »Zumindest bin ich jetzt wach.«

Er legte den Stift in das Buch, damit er nicht wieder wegrollen konnte. Auf dem Stuhl lehnte er sich zurück. Sein Rücken knackte. Nian streckte beide Arme mit den Handflächen voran zur Decke und schob sie abwechselnd hoch.

»Besser«, murmelte er

Nein, nichts ist besser, widersprach Davina stumm. Du musst dich ausruhen!

Nian wandte sich wieder seinen Mitschriften zu. Ohne hinzusehen, tastete er nach seiner Flasche, die vor einem Stapel an Büchern und Heften stand. Ungeschickt stieß er gegen die Flasche, sie schwankte und kippte zurück gegen den Turm aus Papier. Das oberste Buch rutschte herunter und löste eine Lawine aus.

»Nein, nein, nein. Nicht …« Nian hielt die flachen Hände davor, um den Fall zu stoppen, aber da war es schon zu spät. Die Bücher landeten mit einem dumpfen Knall auf dem Boden, die Hefte öffneten sich im Sturz und lose Zettel flogen durch das Zimmer.

Nian legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Dann waren Schritte auf dem Flur zu hören und die Tür wurde geöffnet. Sein Vater im Pyjama betrat das Zimmer, schaute über das Chaos auf dem Boden und dann zu seinem Sohn.

»Ist alles in Ordnung, Nian?«

Er nickte eifrig. »Ich bin nur gegen den Bücherstapel gestoßen.«

»Es ist bald Mitternacht, willst du nicht mal schlafen? Oder wenigstens ein Buch lesen, das nichts mit der Schule zu tun hat?«, schlug sein Vater vor. »Die Abschlussprüfungen sind wichtig, aber deine Gedanken sollten sich mal um etwas anderes drehen.«

Davina hielt sich die Hände vor den Mund. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ging am Ende weniger Druck von seinen Eltern aus, als sie gedacht hatte?

»Ich mache nicht mehr lange, keine Sorge«, beruhigte Nian seinen Vater.

»Dann schlaf gut.« Sein Vater schloss die Tür hinter sich.

Nian senkte die Schultern. Sein Blick fiel auf das einzige Buch, das von dem Stapel auf dem Tisch geblieben war. Es hatte einen blauen Einband mit Spiralbindung. »Wolltest du mir sagen, dass ich dich schon wieder zu lange nicht beachtet habe?« Seine Stimme wurde sanft. »Bald, wenn die Prüfungen durch sind, habe ich Zeit für dich. Versprochen. Oder am Wochenende mal eine halbe Stunde.«

Er stapelte die Bücher neu, sammelte die Blätter auf und schob sie zurück in die Hefte. Dann nahm er seinen Kalender zur Hand. Davina schaute ihm dabei über die Schulter.

»Ich liege gut im Zeitplan.« Nian rieb sich die Stirn. »Mein Vorsprung sollte reichen, dass ich heute vor Mitternacht aufhören kann.« Er schlug den Kalender zu und nahm das blaue Buch zur Hand. »Also gut, ich gehe schlafen. Bist du zufrieden, Davina?«

Irritiert trat sie einen Schritt zurück. Hatte er sie bemerkt? Aber warum hatte er sie dann nicht angesprochen, als sie vor ihm gestanden hatte, während er die Sachen aufhob?

»Mir ist klar, dass es zu viel ist, aber nicht mehr lange. Nur noch zwei Monate, dann ist es durch.« Nian ließ den Blick über den chaotischen Schreibtisch wandern. »Morgen werde ich aufräumen. Vielleicht hilft das gegen die Unordnung im Kopf.«

Richtig und jetzt leg dich schlafen.

Er drehte sich um und endlich hatte Davina die Möglichkeit, ihn genauer zu betrachten. Als Kind hatte er die Haare länger getragen, jetzt waren sie nur wenige Zentimeter lang. Das rundliche Gesicht, das bis zu ihrem letzten Treffen einen Hauch von Babyspeck gehabt hatte, war schmal geworden. In Davinas Wahrnehmung schon hager. Ungesund. Der Stress tat ihm auf allen Ebenen nicht gut. Groß war er geworden. Fast zwei Köpfe überragte er sie. Oder es lag daran, dass Davina selbst klein war. Mit zehn Jahren war Nian mit ihr auf Augenhöhe gewesen.

Er verließ das Zimmer und lehnte die Tür an. Davina nutzte den Moment und öffnete das blaue Buch. Ihr Wissen in chinesischer Schrift war über die Zeit ein wenig eingerostet. Sie hatte das Mandarin mit ihm gemeinsam gelernt, als er in die Schule gekommen war.

Davina – Die Herrin der Träume – Konzeptart

Gerufen von Kindern, die von Alpträumen geplagt und in ihnen gefangen werden. Sie rettet die Seelen vor den langen Fängen der Schatten.

– Eine Graphic Novel von Nian Cho –

2019 –

Er hat immer gerne gemalt. Auch mich damals. Er hat gesagt, er will später Künstler werden. Ein Teil von dem Nian, dem sie einst als Begleiterin zur Seite stand, war in ihm geblieben. Das weckte Hoffnung. Zum zweiten Mal an diesem Abend.

Die Klospülung rauschte, kurz darauf klappte die Badezimmertür zu. Davina legte das Buch zurück. Es waren Leute ihresgleichen, die dafür gesorgt hatten, dass die Vorstellungen von Kobolden und Heinzelmännchen in die Welt der Menschen getreten waren. Dinge, die plötzlich an anderen Orten lagen oder sich durch Zauberhand bewegten. Auch als Geister waren sie in den Köpfen der Menschen, wenn diese keinen eigenen Begleiter hatten, aber selbst zu den wenigen Ausnahmen gehörten, die andere Gefährten sehen konnten.

Nian kam zurück in den Raum und schloss lautlos die Tür hinter sich. Er trug seinen Schlafanzug, legte sich ins Bett und löschte das Licht. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er in einen Erschöpfungsschlaf gefallen war. Seine angespannten Gesichtszüge behielt er im Schlaf bei. Er presste die Kiefer zusammen und knirschte dabei mit den Zähnen.

Davinas Neugierde lockte sie an seinen Schreibtisch. Sie nahm das Buch zur Hand und blätterte auf die zweite Seite. Tränen schossen ihr in die Augen. Das erste Bild, das er einst von ihr gezeichnet hatte, klebte darin. Es war kaum mehr als ein Strichmännchen mit Haaren und Flügeln. Die Zeichnung eines Fünfjährigen.

Zum Glück war seine damalige Vorstellungskraft besser als seine Zeichenkünste gewesen.

Auf dem zweiten Teil der Doppelseite befand sich eine aktuelle Bleistiftskizze. Mit schnellen, kurzen Strichen und diesmal in anatomisch korrekten Proportionen, sah Davina sich selbst mit ausgebreiteten Schwingen auf einem Felsen stehen.

Nian, sie drehte sich halb zu ihm, du bist verdammt gut geworden in den letzten Jahren. Du musst deine gesamte Freizeit mit Üben verbracht haben.

Neben der Skizze hatte er Anmerkungen hinzugefügt. Bei ihren Flügeln Begriffe und sogar Formeln aus der Aerodynamik.

Davina kann in den Träumen der Kinder fliegen, in der wachen Welt nur gleiten. 17.8.2020. Sie ließ das Buch sinken. Das erklärte einiges. Davina hatte die Fähigkeit zu fliegen vor vier Jahren verloren. Der Zeitraum passte mit dem, wann Nian dies geschrieben hatte, überein.

Ihre Hände zitterten vor Freude und Erleichterung. Sie legte das Buch auf dem Tisch ab und las weiter.

In der wachen Welt hat sie keine Farben, nur ihre Augen leuchten in einem dunklen Violett. In den Träumen der Kinder erwacht durch deren Fantasie die verborgene Magie von Davina.

Sie blätterte auf die nächste Seite. Eine Farbzeichnung von ihr. Schwarzes, fransiges Haar, eine Haut mit kühl violettem Unterton. Ein Kleid, das durch mehrere einzelnen Stoffbahnen die maximale Bewegungsfreiheit gab.

Er hat mich nicht vergessen. Im Gegenteil. Unser Band ist so stark, dass sein heutiges Wissen meinen Körper verändert hat.

Dann folgten Szenen mit Acrylfarbe gemalt. Alles war sehr patchig, aber durch die Pinselstriche gleichzeitig lebendig, als könnten sie sich jeden Moment anfangen zu bewegen.

Ein Kind saß auf dem Bett. Das Gesicht vor Angst verzogen und eine dunkle Gestalt, die ihre langen, krallenartigen Finger danach ausstreckte. Anschließend entführte Nian den Leser in die Traumwelt des Kindes. Das Kind war in einem Labyrinth gefangen und rannte blindlings umher. Es fiel hin. Die Schattenkreatur war hinter ihm. Dann ein Licht. Davina tauchte mit einem Stab in der Hand auf, der an einen Traumfänger erinnerte.

An der Stelle war er mit dem Malen nicht weitergekommen. Auf jeder folgenden Seite standen mit Bleistift kurze Beschreibungen für die Szenen, die noch kommen sollten.

Nian gab ein gequältes Stöhnen von sich. Davina legte das Skizzenbuch zur Seite und drehte sich zu ihm. Er krallte sich ins Bettlaken und hatte die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass seine Kiefermuskeln herausstachen.

Er träumt.

Hektisch bewegte Nian seinen Kopf hin und her. Er atmete schnell. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn.

Ruf mich, bat Davina, da kam ihr Cor in den Sinn. Stumme Schreie. War das einer?

Davina streckte die Hand nach ihm aus. Eine Scheibe aus Nebel, wie eine sich drehende Galaxie, erschien vor ihr, das Tor zu seiner Traumwelt. Sie zog den Arm zurück und drückte ihn fest an ihren Körper. Zählte dies nicht schon als gewaltsames Eindringen in seine Träume? Was, wenn sie ihm damit schadete?

Nian wälzte sich auf die Seite, die Decke rutschte aus dem Bett und er zog die Beine an den Körper.

»Nein«, flüsterte er weinerlich. »Nein, bitte …«

Davina hob die Decke auf, legte sie wieder über ihn und setzte sich auf die Bettkante.

»Nian, ich bin hier. Bitte, rufe mich. Ich werde dir helfen.«

Trotz der Decke zitterte er am ganzen Körper. Was quälte ihn so sehr in seiner Traumwelt, dass es solche Auswirkungen auf ihn hatte?

»Nian, komm schon. Sag meinen Namen«, bat Davina. Unwissend, ob ihn ihre Worte überhaupt erreichten.

Mit einem Ruck streckte er alle Gliedmaßen von sich, warf sich auf die andere Seite und bekam Davinas Handgelenk zu fassen. Seine Finger umschlossen es.

Sie schaute auf seine Hand. Dass er nicht durch sie hindurchgeglitten war, reichte für sie als Ruf aus. Er wollte ihre Hilfe, doch aus irgendeinem Grund war er nicht in der Lage sie zu rufen. Vorsichtig löste sie sich aus seinem Griff und steckte ihre Hand durch das Portal.

 

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