Kapitel 12

Es war ruhig. Kein Flüstern. Kein Schreien. Nichts. Einfach nur herrliche Stille. Hafren bewegte die Finger. Dann die Füße. Auch keine Schmerzen. Ihr ganzer Körper fühlte sich so wunderbar leicht an, als würde sie auf dem Wasser treiben.

So konnte es bleiben, gerne auch für immer. Aber es durfte nicht. Hafren öffnete die Augen. Alles um sie war verschwommen, trotzdem erkannte sie den grünen Stoff von Neasas Beutel neben sich liegen. Darauf die Maske der Druidin.

Warum hat sie … Ein eisiger Schauer zog durch Hafren. Ein bisschen wie damals als Kind, wenn sie schon gesehen hatte, dass die anderen Kinder hinter der Ecke mit Steinen in der Hand auf sie gewartet hatten. Nur stärker. Was … Ist das? Ihre nekromatischen Fühler waren auf etwas Altes gestoßen. Alt, mächtig und vor allem tot.

Ganz ruhig, beschwor sie sich. Diese Kraft war nicht weit von ihr. Vielleicht ein paar Schritte, nur leider hinter ihr. Es war nicht wie die Pflanze in Neasas Hütte. Keine Zwischenwelt. Keine Mischung aus Tod und Leben. Es war hier. Eine starke Seele, stolz in ihrem Kern, gleichzeitig kurz vor dem Zerbrechen.

„Bist du wach?“, fragte eine Stimme mit einem seltsamen Hall im Nachklang.

Hafren schluckte. Es kam aus der gleichen Richtung, in der sie die Seele spürte. Sollte sie einfach so tun, als schliefe sie noch? Zumindest so lange, bis sie einen Plan für eine Situation hatte, in der sie nicht einmal wusste, wo sie sich befand und wo Neasa geblieben war.

„Ich bin wach.“ Ihr Bauch hatte entschieden, noch bevor ihr Verstand alle Möglichkeiten durchdacht hatte. Aber meist hatten sich diese Entscheidungen im Nachhinein als richtig herausgestellt. Mussten sie auch, sonst wäre Hafren längst nicht mehr hier.

Sie schaute in die Richtung der Stimme, sah aber nur einen Stab an die Wand gelehnt, auf dem ein Schädel steckte. In seinen tiefschwarzen Höhlen leuchtete es violett. Hafren weitete die Augen. „Eine gebundene Seele?“, fragte sie mehr sich selbst als den Schädel, da erloschen das Leuchten für einen kurzen Moment, als würde er mit dem Schließen der nicht vorhandenen Lider eine Antwort geben.

„Ich habe gehört, dass es möglich ist.“ Sie stand auf und ging auf die Schädel zu. Dabei öffnete sie ihren Geist vollständig für alle Kräfte, die von ihm ausgingen.

Das ist unglaublich, welch eine Macht von ihm ausgeht. Hafren ballte ihre Hände unter den langen Ärmeln zu Fäusten, als sie zu zittern begannen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas gespürt. Es kribbelte auf ihrer Haut, als sie vor ihm stand.

„Es hat den Nekromanten umgebracht, der mich in meinem Schädel gebunden hat“, antwortete er.

„Das glaube ich.“ Hafren kannte eine Handvoll ihrer Zunft, unter denen auch einige waren, die weitaus mehr Macht und Erfahrung als sie besaßen. Aber niemand von ihnen wäre auch nur im Ansatz in der Lage, eine solche Kraft kontrollieren zu können. „Wie heißt du?“

„Karasu.“

„Wenn du sagst, es wäre dein Schädel gewesen, bist du vom Volk der Corva?“

Das Leuchten wandelte sich von seinem Violett zu einem strahlenden Weiß. „Ja, woher weißt du von meinem Volk?“

„Ich weiß, dass es ausgestorben ist. Man sagt, es sei eine Krankheit gewesen, die euch befallen hat.“

Das Weiß erlosch. „Nein!“

Hafren wich einen Schritt zurück, als sie von Karasus Kraft erfasst wurde. Hass flutete die Höhle. „Was war es dann?“

„Die Frage ist wohl eher, wer.“

Hafren drehte sich um. Im Eingang der Höhle stand eine Ratte, groß wie die Nekromantin selbst. An ihrem Stoffgürtel trug er zwei Dolche. Ein Ohr war eingerissen. „Taemin?“, fragte sie.

Die Schnurrhaare der Ratte zuckten überrascht. „Du kennst meinen Namen?“

„Hast du doch gehört.“

„Woher?“

„Ich habe einen …“ Hafren schmunzelte und überlegte, wie sie ihre Beziehung zu der Maus nennen sollte. „Informanten, der mir sagte, dass noch zwei der Muroidean nach Ausbruch der Seuche im Wald geblieben sind. Ein Krieger und ein Druide. Ihr beschützt den Wald.“ Hafren wurde innerlich ruhig.

Die Muroidean waren schon immer im Wald gewesen und hatten eine besondere Verbindung zu ihm. Dass sie auch während der Seuche nicht ganz gegangen waren, war für Hafren immer ein Zeichen dafür gewesen, dass noch nicht alles verloren war. Sich selbst und Neasa bei ihnen zu wissen, ließ in ihr die Hoffnung aufflammen, dass ihre Unternehmung nicht ganz vergebens war.

Hafren nahm Karasu von der Wand und ging zu Taemin. „Du warst unser Verfolger und hast auf uns aufgepasst?“

Der Rattenkrieger nickte. „So blind wie ihr durch den Wald gegangen seid, ist es ein Wunder, dass ihr so lange nicht auf irgendetwas gestoßen seid, was euch umbringen wollte.“

„Und Neasa ist jetzt bei Kuno, den Druiden?“, wollte Hafren wissen und überging seinen Kommentar.

Wieder nickte Taemin, dann musterte er Hafren. „Soll ich dich zu ihnen bringen?“

„Nicht nötig.“ Kam es aus dem Gang, der aus der Höhle führte. „Karasu hat mir mitgeteilt, dass unsere Freundin wach ist.“ Eine Ratte in einer Kutte, wie Hafren sie sonst nur von Mönchen kannte, kam in die Höhle. Hinter ihm lief Neasa, die erleichtert die Schultern sinken ließ, als sie die Nekromantin sah.

„Geht es dir gut?“, wollte sie wissen.

„Ja, ich habe Ruhe im Kopf“, antwortete Hafren.

„Was du da mit dem Rudel gemacht hast, ich wusste gar nicht, dass du zu so etwas in der Lage ist.“

Hafren stemmte eine Hand die in die Hüfte. „Das und noch mehr, wenn es sein muss. Ich bin froh, dass du keine Angst vor mir hast, aber unterschätzen solltest du mich trotzdem nicht.“

„Da nun alle Beteiligten beisammen sind, wird es nun Zeit, alle Fragen zu beantworten“, sagte Kuno. Er faltete die Hände und ließ sie in Ärmeln verschwinden. „Ihr werdet genug davon haben.“

„Du wolltest mir gerade sagen, was es mit den Elfen und den Ley-Linien auf sich hat“, meinte Neasa.

Kuno nickte bedächtig. „Die Seuche kommt nicht von den Elfen.“

Hafren und Neasa sahen einander an. Waren sie so sehr auf dem Holzweg gewesen?

„Wir waren es“, sagte Taemin.

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